Felix Sturm ist mit vier Weltmeistertiteln längst im Olymp des Boxsports angekommen und steht in einer Reihe mit anderen Ausnahmeboxern wie Henry Maske, Axel Schulz oder den Klitschko-Brüdern. Wir trafen den 36 Jahre alten Kölner während seiner Vorbereitung auf den jüngsten Weltmeisterschaftskampf, den er jedoch bekanntlich am 9. Mai verlor. In unserem Interview verrät er, was einen wirklichen Champion ausmacht und dass, wer austeilt, auch einstecken muss.
Interview: Michael Thelen

9 Uhr, Köln Südstadt: Felix Sturm startet auf dem Crosstrainer in den Trainingstag. Der sympathische Athlet trägt einen Sweater mit der Aufschrift „Mike Tyson“ auf dem Rücken. Im Fernsehen laufen in einer Endlosschleife berühmte Kämpfe der Boxgeschichte. Wir unterhalten uns, während er sein Ausdauerprogramm absolviert.

Auf Ihrer Facebook-Seite haben Sie ein Zitat von Muhammad Ali gepostet: „I hated every minute of training, but I said, ‚Don‘t quit. Suffer now and live the rest of your life as a champion.“ Wie sehen das Training und der Alltag eines vierfachen Boxweltmeisters aus?
Sehr monoton. Jeder Tag ist eng strukturiert: Frühstücken, erstes Training, anderthalb Stunden Mittagsschlaf, Mittagessen, zweites Training, Massage, Dehnen, Abendessen, Schlafen. Während der Vorbereitung auf einen Kampf bin ich allein fünf Stunden im Gym. Der Sonntag ist der einzige Tag, an dem ich komplett Ruhe habe, samstags trainiere ich nur vormittags, danach habe ich Wochenende. Die Zeit brauche ich, um ein wenig Abwechslung zu bekommen und Zeit mit meiner Familie zu verbringen.

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Familie. Felix Sturm mit Ehefrau Jasmina und Sohn Mahir

Wie kommt Ihre Familie mit der eng bemessenen Zeit klar?
Es ist so, wie es auch Muhammad Ali schon gesagt hat: Der ganze Alltag, das Leben mit der Familie leidet darunter. Aber das muss ich in Kauf nehmen. Meine Familie kommt ebenfalls damit klar. Mein Sohn weiß, dass ich in dieser Zeit nur trainiere und schlafe und daher nicht viel Zeit mit ihm verbringen kann. Das Training ist Teil meines Lebens, diese Einschnitte gehören dazu. Ich habe eine Frau, die das zu 100 Prozent unterstützt. Darüber bin ich sehr glücklich.

Wann hatten Sie den ersten Kontakt mit Boxen?
Mit elf Jahren. Es gibt Kinder, die fangen schon mit sieben oder acht Jahren an. Aber ich glaube, da ist man noch zu verspielt. Ich habe in meiner Jugend vieles ausprobiert: Fußball, Handball, Basketball … Das hat alles Spaß gemacht. Aber beim Boxen war ich von der ersten Sekunde an Feuer und Flamme – und diese Liebe, dieses Feuer besteht bis heute.

Was fasziniert Sie an dieser Sportart?
Die Herausforderung! Die Vorbereitung auf den Kampf, sich jedes Mal auf einen neuen Gegner einzustellen, zu 100 Prozent fit zu werden, dabei an seine Grenzen zu gehen und immer besser zu werden. Und dann mit etwas zu kommen, das den Gegner überrascht, mit dem die Experten und auch meine Fans nicht gerechnet haben. Vor allem aber geht es darum, mit jedem neuen Kampf  seine Leistung zu steigern und die Zuschauer neu zu begeistern, zu elektrisieren. Nur so kann man auch neue Fans für den Boxsport gewinnen.

Braucht der Boxsport neue Fans?
Unbedingt. Fußball ist für die breite Masse der Sport Nummer eins und wird es immer bleiben – weltweit. Boxen hat es schwieriger, da es weniger Kämpfe gibt. Wir können nur zwei- bis dreimal im Jahr kämpfen – daher müssen wir extrem gut in Form sein und immer eine gute Show zeigen. Auf diesem hohen Niveau muss man bleiben und sich sogar steigern, in jeglicher Hinsicht.

Was  braucht ein Boxer, um erfolgreich zu sein?
Die einen sagen Talent, die anderen Ehrgeiz. Wenn man beides hat, kann man extrem erfolgreich werden. Ich würde aber immer sagen, dass am Ende der Ehrgeizige gewinnt. Er gibt alles, um zu siegen. Die talentierten Jungs neigen dazu, beim Kampf ein paar Gänge zurückzuschalten und nicht alles aus sich herauszuholen. Dies kann im letzten Viertel eines Kampfes entscheidend sein. Dann kommt der Ehrgeizige, der vielleicht weniger Talent hat, aber den Gegner durch seine Entschlossenheit so unter Druck setzt, dass er nicht mehr weiterweiß.

In den Minuten vor einem großen Kampf: Was geht da in Ihrem Kopf vor?
Ich bin relativ entspannt, trotz des Drucks. Ich glaube, durch meine Ruhe spare ich viel Kraft, die anderen im Ring dann fehlt. Ich denke, wenn bei mir die Nervosität hochkommen würde, würde ich nicht gut boxen und könnte meine Leistung nicht abrufen. In der Stunde vor dem Kampf noch einen Kaffee trinken und runterkommen – das geht bei mir ganz gut. Mein Team ist viel nervöser.

Zählt im Ring eine ausgefeilte Taktik oder Intuition?
Es ist wahrscheinlich eine Kombination von vielen Dingen. Aber vor allem ist es der Glaube an sich selbst. Es ist ein bisschen wie ein Puzzle. Man arbeitet ständig daran, dass alles zusammenpasst. Im Ring ist es wie im ganzen Leben: Es gibt Phasen, in denen es schwer wird, in denen die Luft wegbleibt. Dann schalten viele Boxer ab. Sie verlieren den Glauben an sich und vergessen alles, wofür sie gearbeitet haben. Es geht ihnen dann nur noch ums Überleben.

Wie reagiert man, wenn man zu Boden geht?
Damit muss man klarkommen. Es geht nicht nur ums Austeilen – man muss auch einstecken können. Wenn man einmal zu Boden geht, gehört das einfach dazu. Wer es verarbeitet und zurückfeuern kann: Der ist der wahre Champion.

Welche Rolle spielt Aggressivität?
Gar keine. Die großen Champions haben sich voll unter Kontrolle. Da gibt es niemanden, der wild nach vorne geht und versucht, den Gegner mit einem Schlag auszuknocken. Über Mike Tyson zum Beispiel haben viele Leute gesagt, er würde auf seine Gegner nur einprügeln. In Wirklichkeit waren die Geschwindigkeit und die Präzision, die er gezeigt hat, Teil seines Konzepts. Er hat das trainiert und war in der Lage, es im Ring perfekt umzusetzen. Daher, denke ich, hat man ihn unterschätzt.

Sie sind seit 2009 selbst Promoter …
Ja, für mich war es wichtig, mich selbstständig zu machen. Ich organisiere jetzt meine Kämpfe so, wie ich es möchte. Viele Promoter setzen ihre Boxer unter Druck, indem sie über deren Köpfe hinweg bestimmen, wann und wo sie gegen wen kämpfen müssen. Da geht es nur darum, mit den Boxern gut abzukassieren. Das gibt es bei mir als Promoter nicht. Mit den Jungs, die wir unter Vertrag haben, haben wir ein freundschaftliches Verhältnis. Wir trainieren zusammen, wir sparren zusammen und planen auch die Kämpfe ganz anders. Das ist eine sehr viel lockerere Atmosphäre.

Welche Veränderungen brachte dies für Sie persönlich?
Früher musste ich jede Woche nach Hamburg fahren, allein das waren jedes Jahr Zehntausende Kilometer. Gleichzeitig hatte ich viel weniger Zeit für meine Familie. Jetzt habe ich mehr innere Ruhe. Ich muss mich mit vielen Dingen nicht mehr auseinandersetzen und bin mein eigener Chef. Was ich gut mache, mache ich für mich gut – was ich schlecht mache, mache ich für mich schlecht und muss mit den Konsequenzen leben. Rückblickend muss ich sagen, ich war bei meinem damaligen Promoter die größte Gelddruckmaschine. Das hat sich schon in solchen Kleinigkeiten gezeigt, dass man als Boxer die großen Hallen vollmacht, aber dann keine Karten für die eigenen Leute erhält.

Sie haben zwei Kinder, Ihren Sohn Mahir und Ihre Tochter Nahla: Würden Sie Ihre Kinder unterstützen, wenn sie irgendwann einmal selbst boxen möchten?
(lacht) Ich hoffe nicht, dass es dazu kommt. Nahla ist eine ganz Süße, die voll auf ihre Mutter kommt. Ich glaube, Boxen wäre nicht das Richtige für sie. Mahir hat sportlich mein Talent. Ich habe ihn neulich zum Training mitgenommen und er hat sofort begriffen, was er tun muss. Ich habe trotzdem Angst davor, dass mein Sohn in meine Fußstapfen treten möchte. Der Druck ist sehr groß und vielleicht denkt er dann: Ich muss mindestens so erfolgreich werden wie mein Vater. Das wäre keine gute Voraussetzung. Ich hoffe, er macht einen anderen Sport.

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Training. Die Vorbereitung auf den nächsten Kampf erfordert große Disziplin und viel Einsatz. Da bleibt wenig Zeit fürs Privatleben.

Zum Beispiel?
Ich bin großer Real-Madrid-Fan und er auch. Also wenn er Fußball spielen würde und dann sogar für Real Madrid, das wäre Wahnsinn. Als ich anfing zu boxen, waren meine Eltern dagegen. Ich habe mich durchgesetzt und meine Eltern haben das nicht nur akzeptiert, sondern mich auch unterstützt. Wenn ich also merken würde, Mahir wäre ganz im Boxsport angekommen, würde ich ihn natürlich unterstützen. Schließlich möchte ich nicht, dass er irgendwann einmal sagt: Du hast mir meinen Traum zerstört.

Sie sind gebürtiger Leverkusener, haben sich jedoch für Köln als Heimat entschieden. Was gefällt Ihnen an Köln?
Köln ist eine der liebenswürdigsten Städte in Deutschland. Das liegt an den Menschen. Nirgendwo sind sie so warmherzig wie hier. Meine Frau und ich lieben Köln und können uns gut vorstellen, hier alt zu werden.

Sie sind 36 Jahre alt, glücklich verheiratet, und haben sich mit Ihren vier Weltmeistertiteln bereits in den Geschichtsbüchern des Sports verewigt: Was treibt Sie an?
Über Motivation muss ich nicht nachdenken, weil ich diesen Sport liebe. Solange dieses Feuer brennt und ich jeden Tag alles gebe, ist Motivation für mich Nebensache. An dem Tag, an dem ich spüre, dass mein Feuer nicht mehr brennt, höre ich sofort auf. Denn dann fehlt am Ende das entscheidende Prozent Leidenschaft oder Entschlossenheit – und das kann im Ring tödlich sein. Ich hoffe, das wird in den nächsten drei Jahren noch nicht passieren. Denn es gibt noch viele Gegner, die mich besiegen möchten. Und es macht mir Spaß, den Leuten zu zeigen: So einfach ist das nicht und ihr müsst euch ganz schön strecken, um mich zu besiegen.

karriere

Fotos: mg, en, Pohl, P. M. J. Rothe