„Glamorous upcycling“ nennt sie ihre Kunst. Charakteristisch hierfür ist, dass Altes mit Neuem kombiniert wird und ein bildhaftes Symbol für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entsteht. Andrea Wycisk ist von Dingen begeistert, die Patina gebildet haben, und holt sie zurück ins Leben. Die Kölner Künstlerin macht mittels Decollage aus Litfaßsäulenschälungen Pop-Art. Ein Atelierbesuch.
Exponate aus der Serie Coke Girls

© Andrea Wycisk, Exponate aus der Serie Coke Girls

© Andrea Wycisk, Exponate aus der Serie Coke Girls, Foto: P. M. J. Rothe

© Andrea Wycisk, Exponate aus der Serie Coke Girls

Andrea Wycisk

© Andrea Wycisk

Andrea Wycisk lebt in Köln, hat ihr Atelier aber außerhalb der Domstadt im idyllischen Aggertal im Bergischen Land. Es ist hell und ruhig – beides wichtig für Wycisk, um konzentriert arbeiten zu können. Das Haus liegt auf einer Anhöhe und bietet einen wunderbaren Weitblick. Ablenkung oder Motivation? Wohl Letzteres, wenn man die an die Wände gelehnten Bilder betrachtet. Ein gemütliches Sofa für Pausenzeiten, zwei große Arbeitstische, Regale mit Sprühdosen, ein kleiner Tisch mit drei zusammengewürfelten Sesseln, der Boden ist abgedeckt – Andrea Wycisks Atelier ist gemütlich und zweckmäßig zu gleich. Ein Ort, an dem Vergessenes und Verlebtes neu inszeniert werden.

Wie sind Sie zur Kunst gekommen?
Ich habe schon immer gemalt. Aber zunächst habe ich beruflich einen anderen, sehr soliden Weg eingeschlagen. Ich habe Betriebswirtschaft studiert und in dem Bereich auch gearbeitet. Doch das reichte mir irgendwann nicht mehr. Seit 2009 widme ich mich ganz der Kunst. Allerdings profitiere ich noch heute von meinem Studium. Als Künstlerin einen betriebswirtschaftlichen Hintergrund zu haben, ist gar nicht so verkehrt.

© Andrea Wycisk, Exponate aus der Serie Coke Girls

© Andrea Wycisk, FRIEDA

© Andrea Wycisk, FRIEDA

© Andrea Wycisk, Exponate aus der Serie Coke Girls

© Andrea Wycisk, Lagerfeld No. 1

© Andrea Wycisk, Lagerfeld No. 1

Sie arbeiten mit alten, abgeschälten Litfaßsäulenplakaten. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Ich hatte schon immer eine Affinität zu Litfaßsäulen und Plakaten und bin um sie herumgeschlichen. Je abgewrackter sie aussahen, desto mehr haben sie mich gereizt und umso schöner fand ich sie. Ich habe dann gesehen, wie Männer eine Litfaßsäule von alten Plakaten befreiten. War das Glück, Zufall oder Bestimmung? Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich sie gefragt: „Jungs, kann ich das haben?“ Sie haben etwas komisch geschaut, gaben mir aber die abgeschälten Blöcke, nachdem ich ihnen erklärt hatte, dass ich sie für meine Kunst verwenden wollte.

© Andrea Wycisk, Exponate aus den Serien DANCE I und DANCE II

© Andrea Wycisk, Exponate aus den Serien DANCE I und DANCE II

© Andrea Wycisk, Exponate aus den Serien DANCE I und DANCE II

Foto: P. M. J. Rothe

Wie wird in der Praxis aus alten Plakaten Pop-Art?
Ich habe eine eigene Nische kreiert, in der ich durch Decollage dieser Schälungen neue Werke erschaffe. Ich variiere meine Techniken und setze oftmals eine Kombination aus Sprühfarbe und Stencil-Art, Drip Painting und Texten ein. Dazu löse ich die übereinander geklebten Plakatstücke zunächst voneinander ab. Das mache ich mit heißem Wasser. Schicht für Schicht. Da der Leim extrem stark ist, ist es körperlich ziemlich anstrengend. Ich komme wirklich ins Schwitzen, aber es macht mir total viel Spaß. Es ist immer wieder eine Überraschung, was ich finde. Hier habe ich beispielsweise ein Stück von einem alten Plakat, auf dem steht: „Weiberfastnacht, 2.2.78“. Ich schäle die Schichten so lange voneinander los, bis ich auf etwas Interessantes stoße. Aus diesen Schichten entsteht der Untergrund für meine Arbeiten. Ich fertige dann von dem eigentlichen Bild eine Zeichnung, die ich auf eine oder auch mehrere Schablonen übertrage. Die Schablone wird mit einer Art Skalpell aus Pappe ausgeschnitten und, damit sie gut hält, mit kleinen Gewichten auf das Bild aufgelegt. Dann wird gesprüht.

Sie arbeiten mit Materialien, die eigentlich nicht mehr brauchbar sind. Was bedeutet für Sie Nachhaltigkeit?
Auf meine Arbeiten bezogen, bedeutet das: Ich verarbeite etwas, das, wenn ich es nicht nehme, auf dem Müll landen würde. Ich hauche ihm sozusagen neues Leben ein. Nachhaltigkeit ist für mich ein schweres Thema, über das viel debattiert wird. Ich bin in Schlesien in einem Dorf mit 800 Einwohnern geboren worden. Dort wurde nicht über Nachhaltigkeit geredet, sondern sie wurde gelebt. Es gab kein Plastik. Obst und Gemüse wurden selbst angebaut und dann in Gläsern eingemacht. Milchflaschen wurden ausgewaschen, vor die Türe gestellt und „vom Milchmann“ aufgefüllt. Nachhaltigkeit bedeutet für mich persönlich Wiederverwendung, mit den Ressourcen hauszuhalten und nicht unnötig Müll zu produzieren.

Ihre Themen haben aber nichts mit Nachhaltigkeit zu tun …
Nein. Meine Themen sind ganz verschieden. Allen gemeinsam ist, dass sie Freude machen sollen. Ich möchte die Menschen an ihr Glücksgefühl erinnern. Im Moment arbeite ich an der Serie „Rollergirls“. Zu diesem Motiv hat mich mein bevorstehender 50. Geburtstag inspiriert. Ich unternahm gedanklich eine Reise in meine Jugend: Party, Discokugel, Rollschuhe … Ein anderes Thema, das ich eventuell demnächst umsetze: Im Urlaub bin ich auf alte Werbung der Sonnenschutzmarke Delial gestoßen. Diese Werbung gibt es eigentlich nicht mehr und ich möchte sie in einem Bild wiederbeleben. Ein paar Ideen habe ich schon. So sehe ich auf jeden Fall einen Propeller vor mir. Er symbolisiert Freiheit, Wind und Abenteuer.

Exponat aus der Serie Snoopy STRONGMAN

© Andrea Wycisk, Exponat aus der Serie Snoopy STRONGMAN

© Andrea Wycisk, Exponat aus der Serie Snoopy STRONGMAN

© Andrea Wycisk, Rollergirl

© Andrea Wycisk, Rollergirl

© Andrea Wycisk, Rollergirl

© Andrea Wycisk, Küchenheld by Restaurant Maximilian Lorenz

© Andrea Wycisk, Küchenheld by Restaurant Maximilian Lorenz

© Andrea Wycisk, Küchenheld by Restaurant Maximilian Lorenz

Irgendwann waren die Blöcke von der ersten geschälten Litfaßsäule verarbeitet. Woher bekamen Sie und kommt Ihr Nachschub?
Ich habe, als ich nichts mehr hatte, bei Ströer angerufen, ein Unternehmen, das auf Außenwerbung spezialisiert ist, und erklärt, was ich gerne hätte. Die Dame am Telefon war zunächst nicht begeistert und konnte mir keine Termine für eine nächste Schälung geben. Ich bin hartnäckig geblieben und habe ihr aus den „Rippen geleiert“, wann ich mich wieder melden darf. Das war ein halbes Jahr später. Bei diesem Telefonat hatte ich Glück und einen Herrn in der Leitung, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Litfaßsäulen vorm Aussterben zu bewahren. Über ihn bekomme ich „neues“ Material.

Glauben Sie, dass Litfaßsäulen als Werbeträger Bestand haben?
Es verschwinden immer mehr Litfaßsäulen und werden nach und nach durch digitale Medien ersetzt. Das ist schade. Sie gehören zum Straßenbild. Für mich verkörpern sie ein Stück Kultur, die ich Schicht für Schicht wieder sichtbar mache.

Valentina Pahde at Let’s Dance

© Andrea Wycisk, Valentina Pahde at Let’s Dance

© Andrea Wycisk, Valentina Pahde at Let's Dance

Porträt No. 1

© Andrea Wycisk, Porträt No. 1

© Andrea Wycisk, Porträt No. 1

Wen sprechen Sie mit Ihren Bildern an?
Altersmäßig würde ich sagen: Menschen zwischen 25 und 60 Jahren. Im Übrigen jeden, der Spaß an meinen Bildern hat und mit Pop-Art bzw. Graffiti groß geworden ist.

Sie nehmen auch Auftragsarbeiten an. Kommen Ihre Kunden mit genauen Vorstellungen zu Ihnen?
Das ist so unterschiedlich, wie die Menschen selbst. Ich habe Kunden, von denen die einen sehr konkrete, die anderen minimale Vorstellungen von der Größe und dem Inhalt ihres Bildes haben. Die Palette dazwischen ist groß. Und dann gibt es Kunden wie den Kölner Sternekoch Maximilian Lorenz, der mir völlig freie Hand gelassen hat. Er hat einfach gesagt: „Mach was, das zu meiner Art zu kochen passt.“ Es ist gut und schwierig zugleich, völlig frei zu arbeiten.

Was haben Sie gemacht?
Ich habe die Figur des „Batman“ genommen und lasse ihn Gänsekeulen mit Kartoffelklößen servieren. Ich habe das Bild farblich der Räumlichkeit und dem Ambiente entsprechend sehr reduziert gehalten. Aus „Batman“ wurde „Küchenheld“.

Ihr Mann ist auch Künstler und unterstützt Sie, indem er die Holzrahmen für Ihre Bilder anfertigt. Gibt er Ihnen Ratschläge und wie sieht es mit Kritik aus?
Mein Mann macht etwas ganz anderes als ich. Er arbeitet mit Nägeln, die, wenn Licht darauf fällt, Schatten werfen und die Bilder so in Bewegung geraten lassen. Wir sprechen natürlich über unsere Arbeit und üben auch Kritik. Das ist nicht immer einfach (lacht), aber wirksam. Wir haben gelernt, dass Kritik wichtig und richtig ist. (Susanne Rothe)