Eine kleine Unachtsamkeit hat Max Rinneberg sein Gedächtnis gekostet. Er stolperte mit 17 Jahren über ein paar Stufen und stürzte. Seine Schwester Christina fand ihn 20 Minuten später bewusstlos. Max ist seitdem ein anderer, denn seine Vergangenheit ist komplett ausgelöscht. Der ehemals begeisterte Marathonläufer und Fußballer spielt heute Golf und arbeitet als Weinsommelier. Während früher Zahlen und Fakten für ihn wichtig waren, lebt er nun seine Genussseite. Der alte Max ist weg, ein neuer ist da.
Interview: Susanne Rothe
Max musste sich selbst neu erfinden und noch ist er nicht vollständig bei seinem neuen Ich angekommen. Er hat harte Zeiten hinter sich, die er in seinem gerade erschienenen Buch „Du wachst auf, und dein Leben ist weg“ mit einer erstaunlichen Gelassenheit beschreibt. Das Schreiben hilft ihm, sein Schicksal zu bewältigen. Ich kenne den 26-Jährigen seit etwa drei Jahren. Irgendwann erzählte er ganz nebenbei, er habe sein Gedächtnis verloren. Wir hatten gemeinsam Fußball geschaut. Deutschland gegen irgendwen – vergessen. Das Spiel wurde bei Max’ Geschichte sehr schnell zur Nebensache. Der Mann, der heute gerne Fliege trägt, erinnerte sich mit einem Mal weder an seine Eltern noch an seine Schwester. Er konnte lesen und schreiben, aber sein Englisch war weg. Was er liebte und was er hasste – alles weg. Emotionen kannte er nicht und musste sich Schritt für Schritt an sie herantasten. Max hat sich lange und intensiv mit seinem Schicksal auseinandergesetzt. Es gab Zeiten, da war er einfach nur verzweifelt. Das ist vorbei. Er ist ein anderer Mensch, mit anderen Interessen und Vorlieben, ist offen für Neues – und genießt sein zweites Ich. Doch vergessen kann er seine verlorene Vergangenheit nicht. Max schreibt wieder …
Was ging dir in dem Moment durch den Kopf, als du aus deiner Ohnmacht erwacht bist?
Was direkt nach dem Unfall passiert ist, weiß ich nicht mehr. Man hat mir erzählt, ich sei orientierungslos gewesen. Als ich dann im Krankenhaus zu mir gekommen bin, habe ich mich wie ein Baby gefühlt – haltlos, verloren und ohne zu verstehen, was passiert ist. Ich habe nach irgendetwas gesucht, was für mich greifbar war, und wo ich hätte ansetzen können.
Wie hast du auf deine Eltern reagiert?
Ich war fassungslos und wie betäubt, weil ich sie nicht erkannte. Es waren Fremde für mich. Gleichzeitig war ich froh, dass keine zweite Familie gekommen ist, die mich als Kind beanspruchte. Das gab mir Sicherheit.
Aber dir war schon bewusst, dass jeder Mensch eine Familie hat?
Ja, das war mir klar. Aber meine Familie musste ich erst neu kennenlernen.
Hast du dich selbst erkannt?
Nein. Ich war mir komplett fremd. Auch als ich erfahren habe, dass ich Leistungssport betrieben und sehr gerne Fußball gespielt habe, war mir das völlig fremd. Das ist für mich eine andere Welt, mit der ich nichts mehr zu tun habe.
Was wusstest und konntest du überhaupt noch?
Ich konnte noch sprechen und mich ausdrücken. Meine Emotionen waren weg und ich habe anfangs nur zwischen gut und schlecht
unterschieden. Lesen und Schreiben ging und in der Mathematik das Subtrahieren und Addieren. Das Einmaleins und Englisch hatte ich vergessen. Ich wusste nicht mehr, was der Zweite Weltkrieg war. Das sind nur einige Beispiele von vielen.
„Ich bin ein völlig anderer Mensch. Früher war ich der strukturierte, sportbegeisterte Typ, der alles dem Sport untergeordnet hat.“
Wie hast du dir alles neu angeeignet?
Meine Fähigkeiten oder das, was ich nicht mehr konnte, zeigten sich nicht an einem Tag, sondern nach und nach. Themen, die mich interessierten, habe ich recherchiert. Ich habe viel im Internet gelesen und mir Dokumentationen angeschaut.
Was war für dich dein schlimmster Moment?
Die Familie nicht zu erkennen. Ich konnte mit dem Begriff Mutter etwas anfangen, habe aber meine Mutter nicht erkannt. Die Frau, die an meinem Bett stand, war eine Wildfremde und das war das Schlimmste.
Was hat dein Gedächtnisverlust für deine Familie bedeutet?
Meine Mutter sagt heute, dass sie zwei Söhne hat. Der eine sei damals gestorben und der andere sei der Max von heute. Das sei zwar ein Glück für sie, aber zugleich auch sehr traurig, weil der alte Max, mit dem sie 17 Jahre lang Erlebnisse geteilt hätte, einfach nicht mehr da ist. Das gleiche gilt auch für meine Schwester. Die gemeinsamen Erlebnisse und das, was uns verbunden hat, gibt es nur noch in ihren Erinnerungen, aber nicht mehr in meinen.
Sie mussten dich also auch neu kennenlernen?
Ja, ganz genau. Ich bin ein völlig anderer Mensch. Früher war ich der strukturierte, sportbegeisterte Typ, der alles dem Sport untergeordnet hat. Heute kann ich an einer Hand abzählen, wie oft ich in diesem Jahr gelaufen bin. Genau zwei Mal. Ich arbeite mittlerweile in Österreich, lebe mein neues Leben weit weg von zuhause und schaue bei meinen Eltern meistens auf einen Kurzbesuch vorbei. Für meine Eltern und meine Schwester bin ich äußerlich derselbe, charakterlich zwar ein anderer, aber immer noch Sohn und Bruder. Ich weiß, dass die drei meine Familie sind, es fühlte sich für mich anfangs jedoch mehr wie eine sehr lange und enge Freundschaft an. Heute weiß ich und vor allem fühle ich es, dass sie meine Familie sind. Und ich liebe sie auch als meine Familie.
Was hat der Gedächtnisverlust mit dir emotional gemacht?
Aufgrund der fehlenden Erlebnisse gab es keine Emotionen, die musste ich mir neu aneignen. Ich musste lernen, Gefühle zu differenzieren. Was ist gut? Sehr gut? Weniger gut? Was bedeutet Glück? Wie fühlt sich Traurigkeit an? Ist es ein Schmerz oder ist es eine Leere?
Du bist in ein großes Loch gefallen, wie bist herausgekommen?
Ich habe viele Jahre eine Gesprächstherapie gemacht. Außerdem habe ich mich mit allen möglichen Menschen ausgetauscht. Jeder hat Probleme und es hat mir geholfen, zu hören, wie andere damit umgehen. Ich habe Bewältigungsmethoden kennengelernt, aus denen ich die für mich geeignete herausgezogen habe.
„Aus dem Versicherungskaufmann ist der Weinsommelier Max geworden.“
Ist dein altes Leben für dich noch wichtig?
Ja, der alte Max begleitet mich in vielen Situationen. Vor einigen Wochen war hier wie jedes Jahr erster Schultag und ich habe mich gefragt, wie mein erster Schultag wohl ausgesehen hat und wie es nachmittags war, wenn ich aus der Schule gekommen bin. Ob ich Hausaufgaben gemacht habe oder nicht. In mir existiert immer noch eine Leere, die ich nach und nach proaktiv füllen möchte. Im Moment kann ich das noch nicht, weil ich mich erst noch weiter festigen muss. Ich brauche noch etwas Zeit, bis ich wieder 100 Prozent in meinem Leben angekommen bin. Wenn das überhaupt möglich ist.
Welche Schwerpunkte setzt du in deinem neuen Leben?
Zufriedenheit ist mir wichtig und ich möchte das Jetzt genießen. Ich nehme mir mehr Zeit für mich.
Du bist heute ein Genussmensch. Rauchst Zigarre, hast das Thema Wein zu deinem Beruf gemacht. Glaubst du, dass die Ansätze dazu in deinem alten Leben liegen?
Nein. Ich habe mich komplett gedreht. Das weiß ich natürlich nur aus Erzählungen. Früher war mein Zuhause für mich der Nabel der Welt, heute bin ich neugierig, möchte Neues entdecken. Gleichzeitig lasse ich mir bei allem mehr Zeit und genieße.
Wie groß ist die Chance, dass du deine Erinnerungen wiederbekommst?
Weniger als ein Prozent. Aber man soll nie nie sagen.
Möchtest du dich überhaupt noch einmal erinnern?
Das ist schwierig zu beantworten. Diese Frage stelle ich mir immer wieder. Natürlich möchte ich einiges von früher wieder wissen. Auf der anderen Seite hat mich die Tatsache, dass ich mich an überhaupt nichts mehr erinnere, zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ich bin extrem neugierig, weil ich ja neue Erfahrungen sammeln muss. Das wäre ich nicht, wenn ich mich an alles erinnern könnte.
Du siehst den Gedächtnisverlust als Chance?
Er ist Fluch und Segen, Sonne und Schatten. Natürlich ist es extrem belastend und schwer, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, aber es gibt mir auf der anderen Seite viel Raum für Neues. Deswegen habe ich jetzt einen neuen Job in Salzburg angenommen und probiere etwas anderes aus. Ich kenne die Stadt nicht, ich kenne keinen Menschen. Ich fülle die Leere, die ich in mir trage, mit neuen Erlebnissen und Erfahrungen auf.
Warum hast du das Buch geschrieben?
Das war eine Form der Therapie. Ich habe gehofft, mit dem Thema abschließen zu können. Zunächst habe ich nur für mich geschrieben und hatte überhaupt keinen Gedanken daran, es zu veröffentlichen. Durch das Buch versteht mich meine Familie ein Stück besser. Aber ich habe plötzlich neue Fragen.
Ist das gut oder schlecht?
Ich sehe es positiv, denn ich bin jetzt ein Stück freier und offener den Dingen gegenüber als früher.
Wirst du wieder schreiben?
Ja, ich habe bereits damit begonnen. Ich will für mich selbst unter anderem die Frage beleuchten, ob ich mich wieder erinnern möchte. Ich möchte außerdem klären, was ich dabei empfinde, wenn ich mich auf die Suche nach dem alten Max mache. Vielleicht schreibe ich mit meiner Familie zusammen. Aber wie beim ersten Mal schreibe ich auch dieses Mal in erster Linie für mich und nicht, um ein Buch zu veröffentlichen.
Was machst du heute?
Aus dem Versicherungskaufmann ist der Weinsommelier Max geworden. Ich habe gerade vom Dolomitengolf Resort in Osttirol nach Salzburg ins St. Peter Stiftskulinarium, das älteste Restaurant Mitteleuropas, gewechselt. Ich erlebe dort bestimmt eine spannende Zeit, denn es macht jetzt schon viel Spaß. Ich habe mit vielen internationalen Gästen zu tun. Aber auch Salzburg wird wahrscheinlich nur eine Zwischenstation sein.
Wie stellst du dir deine Zukunft vor?
Ich möchte weiter meine Neugierde stillen und irgendwann, wenn es sich richtig anfühlt, ankommen. Ich werde irgendwo auf der Welt mein Zuhause finden. Das Schöne ist ja, dass ich das jetzt nicht entscheiden muss, sondern hier und heute einfach nur genießen kann.
Fotos: Max Rinneberg (4), Patmos Verlag