Seit fast 60 Jahren kümmert sich der Kinderschutzbund Bonn um das Wohl von Kindern und Jugendlichen. „Gemeinsam machen wir Kinder unschlagbar“, lautet sein Motto. Ziel ist es, Lösungen für Probleme im Familienalltag zu finden. „Eltern und Kinder müssen auf Augenhöhe miteinander leben“, sagt Ellen Heimes. Sie ist Geschäftsführerin des Ortsverbandes Bonn. Unterstützt wird der Kinderschutzbund von zahlreichen Ehrenamtlichen. Dazu gehört auch Alexandra Roth. Die ehemalige Bonna und Initiatorin der Kampagne NO! K.O. gegen K.-o.-Tropfen ist Schirmherrin des Kinderschutzbundes Bonn und möchte, wie Ellen Heimes, seine Arbeit in der Gesellschaft sichtbarer machen. Zwei Frauen, eine Vision. RHEINexklusiv hat sie zu einem Gespräch über den Kinderschutzbund, das Ehrenamt und die Vielschichtigkeit von Gewalt gegen Kinder getroffen.

Wovor müssen Kinder heute geschützt werden?
Ellen Heimes: Leider vor ganz schön viel. Es fängt damit an, dass wir in einer unsicheren Zeit leben und Kinder das sehr deutlich mitbekommen. Sie beobachten alles, was so passiert, sehr genau und spüren auch die Unsicherheiten der Erwachsenen. Das wirkt sich auf die Psyche negativ aus, wovor wir Kinder ebenso schützen müssen wie natürlich vor dem großen Bereich Gewalt. Bei der Ablehnung von physischer Gewalt ist in der Gesellschaft sehr viel Konsens erreicht worden. Der nächste Schritt ist, seelische Gewalt in den Fokus zu stellen, herabwürdigende Erziehungsmethoden aufzuzeigen und eine Ebene zwischen Eltern und Kindern zu schaffen, die mehr Beziehung als Erziehung in den Vordergrund stellt.

Muss man mittlerweile nicht auch Kinder vor Kindern schützen?
Ellen Heimes: Ich würde auch sagen, dass wir früh beginnen müssen, Kinder für die Folgen ihres Verhaltens zu sensibilisieren. Wir orientieren uns dabei an der Frage: „Was passiert eigentlich, wenn du die Dinge grob klärst und dich mit Gewalt durchsetzt?“ Gewalt ist für beide Parteien keine gute Wahl. Für diese Problematik haben wir mittlerweile sehr gute Präventionsangebote für Kindergärten und Grundschulen. Ob man Kinder vor Kindern schützen muss, ist vielleicht etwas zu stark formuliert. Man muss Kinder sehr gut begleiten und beobachten, was sie an Emotionen und Effekten mitbringen.

Den Kinderschutzbund Bonn gibt es seit bald 60 Jahren, wie hat sich die Arbeit in dieser Zeit verändert?
Ellen Heimes: Als der Kinderschutzbund gegründet wurde, war eines der Hauptthemen, dass Flüchtlingskinder aus Vertriebenenfamilien aus Ostpreußen keine Schulmilch bekamen. Das war einer der ersten Anlässe, mit denen sich der Kinderschutzbund Bonn beschäftigt hat. Er hat damals eine Schulmilchbereitstellung für alle Kinder initiiert. Das leitet zu dem über, wie wir noch heute unsere Arbeit verstehen: möglichst niederschwellig ansetzen und möglichst dort, wo man Kinder gut erreichen kann. Deshalb suchen wir stark die Kooperation mit Kindergärten, um den Kindern frühzeitig Verbesserungen zukommen zu lassen. Was sich verändert hat, ist die Erfahrung und das Wissen darum, dass man mit den Eltern arbeiten muss, wenn man etwas für die Kinder verbessern möchte. Den Bereich Elternarbeit gibt es erst seit den 1980er Jahren und er ist seitdem stark gewachsen.

Wie sieht dies konkret aus?
Ellen Heimes: Der Kontakt zu den Eltern läuft häufig über das Kind, weil es auffällig ist. Es kann sein, dass das Kind nie wettergerecht angezogen ist oder nie Sportzeug dabeihat. Die Angebote, die wir dem Kind dann machen, sind immer freiwillig. Wir schlagen den Eltern vor, einmal zuzusehen, was wir machen und was das Kind schon alles kann. Das ist oft ein Türöffner, um einen Schritt weiterzugehen und die Eltern zu fragen, wo wir sie unterstützen können. Ein Hauptthema ist immer wieder die beengte Wohnsituation, die Konfliktpotenzial in sich birgt. Das Problem ist, wir können am Wohnungsmarkt nichts ändern. Wir können aber beispielsweise dabei unterstützen, dass solche Kinder bevorzugt einen OGS-Platz erhalten. Wir versuchen, die Situation zu entzerren.

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Ellen Heimes und Alexandra Roth, Foto © P. M. J. Rothe

Kann ein Kind unabhängig von Lehrern und Erziehern sich selbst an den Kinderschutzbund wenden?
Ellen Heimes: Auf jeden Fall: Es gibt ja das anonyme bundesweit agierende Kinder- und Jugendtelefon. Unter der „Nummer gegen Kummer“ – 116111 – können sich Kinder und Jugendliche kostenfrei an uns wenden. Am Telefon sitzen speziell geschulte Ehrenamtliche. Dies betrifft auch Testanrufe von Kindern und Jugendlichen, die beispielsweise fingierte Geschichten erzählen. Es gibt Auswertungen, dass diese Anrufe, wenn mit ihnen sorgsam umgegangen wird, später auch zu echten Anrufen führen können.

Was kann der Kinderschutzbund tun, wenn ein Kind Gewalt ausgesetzt ist und bei dem Telefon anruft?
Ellen Heimes: Wird ein Kind geschlagen oder beispielsweise im Winter ohne Jacke stundenlang auf den Balkon gestellt, da gibt es ganz furchtbare Sachen, dann raten wir dem oder der Betroffenen sich unverzüglich an jemanden zu wenden, dem er/sie vertraut. Das kann ein Lehrer, aber auch die Nachbarin sein. Älteren Jugendlichen raten wir, das Jugendamt anzurufen. Wenn sich jemand direkt bei unserer Geschäftsstelle meldet, dann klären wir über die Möglichkeiten der Hilfe auf und begleiten im Einzelfall auch mal zu den entsprechenden Stellen. Wichtig für uns ist, dass wir alles mit dem Kind altersgemäß absprechen. Ein großes Anliegen ist es, dass möglichst viele Kinder uns kennen.

Wie finanziert sich der Kinderschutzbund?
Ellen Heimes: Wir haben bestimmte Anteile in unserem Angebot, die werden kommunal refinanziert. Beispielsweise, wenn ein Kind in Obhut genommen wird, dann muss es irgendwo untergebracht werden. Wir haben zehn ehrenamtliche, geschulte Bereitschaftsfamilien, die einen Säugling oder ein Kleinkind innerhalb von zwei Stunden aufnehmen können. Wir begleiten diese Familien. Das wird dann refinanziert. Bei anderen Angeboten, wie zum Beispiel der Hausaufgabenbetreuung oder dem Kinder- und Jugendtelefon, sind wir auf viele Spenden angewiesen.

Welche Rolle spielen Ihrer Erfahrung nach Kinder bei kommunalen Entscheidungen?
Ellen Heimes: Noch eine viel zu kleine. Das fängt bei der Verkehrsführung auf Schulwegen an und endet bei der Gestaltung von Schulen – vieles sollte man sich aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen ansehen. Ein anderes Problem ist der Mangel an Kindertagesstätten, den zu beheben, ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag.
Alexandra Roth (hakt ein): Wenn es um Kitas geht, steht immer im Fokus, die neuen Mütter möchten arbeiten gehen. Dies ist sicher richtig, aber es geht doch darum, dass Kinder soziale Kontakte benötigen.
Ellen Heimes: Genau, und ich möchte noch ergänzen, dass viele Kinder erst in der Kita Deutsch lernen und/oder ein warmes Essen bekommen. Gute Betreuungsmöglichkeiten bieten einen enormen Schutz für Kinder. Gerade die Hochphase von Corona, als die Eltern sehr belastet waren, hat uns die Bedeutung von Betreuungsmöglichkeiten aufgezeigt. Es geht jetzt um ihre langfristige Planung, um einen Erdrutsch zu vermeiden.

Kinderschutzbund

Alex, welche Erfahrungen hast du mit dem Kinderschutzbund gemacht?
Alexandra Roth: Der Kinderschutzbund hat so viel Positives. Da spricht niemand mit erhobenem Zeigefinger oder macht den Eltern direkt Vorwürfe. Man wird positiv abgeholt, um etwas zu verbessern. Das ist ein anderer Ansatz, als nur über Kritik zu gehen. Ich glaube, wir müssen umdenken. Die Probleme muss man angehen. Aber es gibt immer mehrere Wege. Am Ende ist es wichtig, dass der Problemverursacher nicht abgeschreckt wird und sich zurückzieht.

Wie wichtig sind ehrenamtlich Tätige?
Ellen Heimes: Sehr wichtig! Um es in Zahlen auszudrücken: Wir sind 28 Hauptamtliche und 115 Ehrenamtliche. Unsere größte Wirksamkeit basiert auf dem ehrenamtlichen Teil. 40 sitzen am Kinder- und Jugendtelefon. Dann haben wir 25 Bezugspaten und -patinnen. Die sind gut ausgebildet und geschult und können eine Familie bis zu zwei Jahre begleiten. Die Gründe hierfür sind ganz unterschiedlich: Ein Paar trennt sich und plötzlich fehlt jetzt das soziale Netz. Der Alltag muss neu strukturiert werden. Neulich hatten wir eine Familie mit Drillingen. In der Schwangerschaft war das dritte Kind nicht entdeckt worden. Hilfe wurde notwendig.

Wie wird man Ehrenamtler? Rufe ich Sie einfach an?
Ellen Heimes: Genau, und dann erzähle ich Ihnen, was es für Möglichkeiten gibt. Es gibt mehrere große Bereiche: das Kinder- und Jugendtelefon, die Bezugspatenschaften, die Hausaufgabenbetreuung und die Einzelbetreuung an Bonner Grundschulen. Hierbei steht nicht im Fokus, Bildung aufzuholen, sondern Beziehung und Bindung zu stabilisieren, damit Schule überhaupt erst fruchten kann. Alle Ehrenamtlichen werden gut geschult, wobei es auch darum geht, zu lernen, die nötige Distanz zu den Kindern zu wahren. Beim Kinder- und Jugendtelefon ist Gesprächsführung wichtig und für sich selbst zu reflektieren, dass man nicht handeln, sondern nur zuhören kann, aber durchaus, die eigenen Gefühle äußern darf. Das tut dem Kind gut, weil es spürt, dass es ernst genommen wird. Egal für welchen Bereich man sich entscheidet, jeder kann jederzeit wechseln, wenn es nicht das Richtige ist, oder sagen: „Ich höre auf.“

Hat Corona, die Themen, mit denen die Kinder zu Ihnen kommen, beeinflusst?
Ellen Heimes: Natürlich. Seit Corona beschreiben die Kinder, dass ihnen die Zukunft Angst macht. Sie sorgen sich auch um ihre Eltern, weil sie genau mitbekommen, dass diese am Limit sind. Aber unabhängig von Corona: Alle unsere Angebote sollen helfen, die Familien zu stabilisieren und in die Lage versetzen, wieder selbst aktiv zu werden. Wir glauben, dass alle Eltern gute Eltern sein möchten. Und wenn sie keine guten Eltern sind, dann glauben wir, dass irgendetwas dahintersteckt: Krankheit, ein Trauma, finanzielle Sorgen … Dann überlegen wir gemeinsam, was die Eltern ändern können, damit es für das Kind besser wird.

„Dann überlegen wir gemeinsam, was die Eltern ändern können, damit es für das Kind besser wird.“

Alex, was hat dich dazu gebracht, Schirmherrin zu werden?
Alexandra Roth: Ich habe an vielen Stellen in meinem Leben Glück gehabt. Je älter ich werde, desto mehr habe ich den Wunsch, dieses Glück weiterzugeben. Dann schaut man sich um, wo man das machen kann. Und da muss man nicht sehr weit schauen. Am Kinderschutzbund hat mich, wie schon gesagt, sofort die positive Herangehensweise beeindruckt. Eine negative Einstellung bringt uns nicht weiter. Der Aufwand, sich einzubringen, ist im Vergleich zur Wirkung sehr gering. Jeder kennt zwar den Kinderschutzbund, doch man muss die Marke viel bekannter machen. Die Schirmherrschaft ist auf ein Schuljahr befristet, aber ich bin noch nicht davon überzeugt, dann aufzuhören.
Ellen Heimes (freut sich): Ich auch nicht.
Alexandra Roth: Ganz gleich, wohin die Reise geht, ich werde in jedem Fall den Kinderschutzbund weiter ehrenamtlich unterstützen. Vielleicht kann ich auch noch meine Idee, mich als Doula zu engagieren, gemeinsam mit dem Kinderschutzbund realisieren. Doulas sind medizinische Laien und begleiten werdende Eltern zusätzlich zur Hebamme bei Geburten in Klinik oder Geburtshaus und bei Hausgeburten.
Ellen Heimes: Das kann ich mir gut vorstellen. Diese sehr schöne Idee würde zu unseren Bezugspatenschaften passen. Damit könnte man ganz früh im Leben des Kindes eine gute Erfahrung setzen.

Kinderschutzbund

Alex, was verknüpfst du inhaltlich mit deiner Aufgabe?
Alexandra Roth: Mir ist es unter anderem wichtig, ins Bewusstsein zu rücken, dass Grausamkeiten gegenüber Kindern nicht immer Schläge bedeuten, sondern seelische Gewalt genauso brutal und verstörend für das Kind ist. Das hat mir eine Veranstaltung des Kinderschutzbundes klargemacht. Was die Begleitung von Veranstaltungen betrifft, kann der Kinderschutzbund mich einsetzen, wo er mich braucht. Das kann auch beim Würstchenstand sein.

Was sind deine nächsten Aufgaben als Schirmherrin?
Ellen Heimes: Ich hake kurz ein. Alex, du weißt es noch gar nicht. Wir haben eine Sozialpädagogin einstellen können, die in die Sammelunterkünfte der ukrainischen Flüchtlinge geht und dort unterstützt. Mittlerweile ist für die meisten klar, dass eine schnelle Rückkehr nicht in Aussicht steht. Somit wird Hilfe benötigt. Ich würde dich, Alex, gerne einmal dahin mitnehmen und die Werbetrommel rühren.
Alexandra Roth: Ich mache das natürlich gerne und möchte dabei betonen, dass ein Ehrenamt großen Spaß macht und man, anders als viele glauben, nicht komplett vereinnahmt wird. Ich kann jederzeit „Nein“ sagen. Ehrenamt ist außerdem keine Einbahnstraße – man bekommt immer etwas zurück.
(Susanne Rothe)

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