Unten den Straßen Roms befindet sich eine düstere Welt voller Geheimnisse. In dem unterirdischen Netz endloser weitverzweigter Gänge, dunkel und feucht, wurden rund 850.000 Menschen bestattet. Die Katakomben haben Geschichte erlebt und sind selbst Teil von ihr. Die antiken Grabstätten zeugen vom Umgang der Menschen mit dem Tod, von christlichem Glauben und der Hoffnung auf Heil und Rettung. Es ist eine Stadt der Toten, die heute nur die wenigsten betreten dürfen. Norbert Zimmermann gehört zu diesem kleinen Kreis und steigt regelmäßig hinab in die römische Unterwelt. Der gebürtige Bonner lebt in Rom, ist Wissenschaftlicher Direktor der Abteilung Rom des Deutschen Archäologischen Instituts und erforscht die Geheimnisse der Nekropole.

Du hast Christliche Archäologie, Kunstgeschichte und Italienisch studiert. Was war dein berufliches Ziel?
Meine Eltern waren Lehrer. Zuerst wollte ich das auch werden, aber dann hätte ich mein ganzes Leben schon gekannt. Also beschloss ich zuerst etwas anderes, verrücktes auszuprobieren, jedenfalls solange ich Freude daran hätte – es hat geklappt, ich bin immer noch dabei.

Wie kamst du zur Archäologie?
Unsere Familie ist früher sehr viel gereist. Wir waren in Italien, in Israel, der Türkei … Es war faszinierend und aufregend, in die Geschichte dieser Länder einzutauchen. Ich wollte daher etwas studieren, was damit im Zusammenhang steht. Damals konnte ich noch kein Italienisch, wollte es jedoch unbedingt lernen. So habe ich mir eine etwas verrückte Fächerkombination zusammengestellt – inklusive Italienisch. Es war toll und ich bin dabeigeblieben.

Seit 2014 bis du Wissenschaftlicher Direktor (Zweiter Direktor) der Abteilung Rom des Deutschen Archäologischen Instituts. Was gehört zu deinen Aufgaben?
Das Deutsche Archäologische Institut betreibt weltweit archäologische Forschungen, bei uns in Rom von der Frühgeschichte bis ins Frühmittelalter, und zwar in Rom selbst, Italien und in Nordafrika. Zudem haben wir eine öffentliche Bibliothek und Forschungsarchive, die Wissenschaftlern aus aller Welt offen stehen. Zu meinen Aufgaben gehört unter anderem die Leitung der Redaktion, dass heisst die Betreuung aller wissenschaftlichen Veröffentlichungen, ob Bücher oder unserer Fachzeitschrift. Daneben habe ich meine Forschungen: Mein Bereich ist die Spätantike, ich arbeite in Rom in den Katakomben und Norditalien. Für die konkrete Arbeit in Italien werden Kooperationen vereinbart mit Denkmalbehörden sowie nationalen und internationalen Partnern, oft auch mit deutschen Universitäten. Forschung findet heute stark vernetzt statt.

Das klingt sehr privilegiert …
Das ist ein großes Privileg. Und für mich auch ein riesiges Glück, eine Art Traum-Job. Ich hatte schon mit dem Studium Glück, konnte machen, was mich begeisterte und immer dazu arbeiten. Dazu habe ich natürlich häufiger den Wohnort gewechselt. Ich empfinde es jeden Tag als Privileg, dass ich jetzt hier in Italien arbeiten darf, und ich mag meinen Beruf sehr.

Wenn man an Archäologen denkt, kommt einem unweigerlich Indiana Jones in den Sinn. Wie geht man als Wissenschaftler mit dem Image des helden- und wehrhaften Schatzsuchers um?
Das Image ist gar nicht so schlimm. Abgesehen von den Abenteuern ist an dem, was in den Filmen gezeigt wird, ein ganz kleines bisschen Wahres daran. Das heißt, man geht auf Ausgrabungen, weil man etwas finden möchte. Damit löst man sich aus seinem sozialen Kontext heraus, ist bei der Arbeit schmutzig und schwitzt.

Aber das zeigt natürlich nur einen kleinen Teil unserer Arbeit. Sehr viel ist Bibliotheks- und Archivstudium. Und, dass wir Gold ausgraben, ist natürlich Quatsch. Die tollsten Funde sind oftmals gar nicht besonders wertvoll oder werden nach anderen Werten bemessen als nach materiellen. Aber ich kann mit diesem Image des Indiana Jones leben.

Seit 2006 forschst du in den römischen Katakomben. Um was genau geht es da?
Das Faszinierende an den Katakomben ist, dass es riesige unterirdische Totenstätten sind. Es gibt vor den Toren Roms etwa 70 solcher Anlagen – ein rund 170 Kilometer umfassendes, stockdunkles Gangsystem. Die Stätten sind von etwa 200 n. Chr. bis 400 n. Chr. vorwiegend zur Bestattung genutzt worden. Danach wurden sie drei- bis vierhundert Jahre lang auch als Pilgerorte aufgesucht, um die Reliquien dort begrabener frühchristlicher Märtyrer zu verehren. Die Katakomben gerieten dann für lange Zeit in Vergessenheit und wurden erst im 16. Jahrhundert wiederentdeckt. Für die Forschung war es lange kompliziert, dieses Labyrinth zu erfassen. Durch die moderne Technologie mit 3-D-Laserscannern und Statistikprogrammen sind die Katakomben mittlerweile komplett erforschbar geworden. Das lässt extrem schnelle und genaue Dokumentationen zu. Wir können mit den digitalen 3D-Modellen schnell und effizient gesamte Gangsysteme analysieren und mit Datenbanken, etwa zu den Inschriften, verknüpfen.

Archäologische Funde und Ausgrabungen geben Aufschluss darüber, woher wir kommen und wie wir früher gelebt haben. Die Katakomben zeigen auch, wohin wir einmal gehen. Ist das für deine Forschungen ein anderer Ansatz?
Es ist immer sehr spannend zu sehen, wie mit dem Tod umgegangen wurde, was man hoffte und woran die Menschen glaubten. Rom war früher für ein paar hundert Jahre in unserem westlich europäischen Kontext die führende Macht. Am Ende dieser Zeit, in der Spätantike, als die Machtstellung zusammenbrach, blühte das Christentum auf. Für die Christen war der Tod der Übergang in ein besseres Leben. In der Zeit der Krise gab es die Hoffnung auf Wiederauferstehung. Dieser Glaube manifestierte und verbreitete sich sehr schnell.

Konnte sich jeder ein Begräbnis in den Katakomben leisten?
Die Idee der Katakomben ist genau das Gegenteil von „sich leisten können“. In einem Teil der Gesellschaft waren die Menschen so arm, dass sie kein Geld für ein Grab hatten. Und genau in diesen Fällen sprang die Kirche ein. Der Bischof stellte den Menschen Gräber kostenlos zur Verfügung. Das dürfte für die Ausbreitung des Christentums ein wichtiger Faktor gewesen sein. Charakteristisch für die Katakomben ist also, dass sehr viele der Bestattungen Armenbestattungen waren.

In der Domitilla-Katakombe schmücken 82 Malereien die Grabbereiche. Was zeigen sie?
Die Bildthemen der Katakombenmalerei sind ein sehr spannendes Thema. Sie bilden zum ersten Mal in der abendländischen Kunst biblische Texte ab. Am Anfang wählte man dafür ganz einfache Erzählungen aus dem Alten und Neuen Testament aus. Zum Beispiel die Geschichte von Daniel in der Löwengrube, der nicht gefressen wird. Sie zeigen Jonas, der aus dem Bauch des Wals gerettet wird sowie die Erweckung von Lazarus vom Tod. Es handelt sich immer um ganz knappe Darstellungen von biblischen Geschichten, die alle von Heil und Rettung durch Gott erzählen.

Was ist mit den Bestatteten im Laufe der Jahrhunderte passiert?
Die Gräber wurden wahrscheinlich bereits im Frühmittelalter nach Materialien durchsucht, die man entfernen und verwerten konnte. Zum Beispiel waren das Verschlussplatten aus Marmor. Marmor verbrennt zu Kalk, was ein sehr wertvolles Baumaterial ist. Wir wissen allerdings nicht genau, wann die Zerstörungen entstanden. Die Knochen der begrabenen Gläubigen, die als Märtyrer verehrt wurden, brachte man im Mittelalter als Reliquien in die innerstädtischen Kirchen. Der Besitz von Reliquien war etwas Besonderes und die Nachfrage danach war groß. Als dem Papst bewusst wurde, dass er quasi über Reliquien-„Minen“ verfügte, wurden diese sozusagen „abgebaut“. Die Gräber wurden offiziell geöffnet, die Knochen entnommen und verkauft. Sehr viele Kirchen in der christlichen Welt erhielten sog. Katakombenheilige. Das war für die Gemeinden neben dem wirtschaftlichen Aspekt ein großes religiöses Geschenk. Viele der Gräber sind daher heute leer. Zu unserer Aufgabe gehört es nicht, die anderen zu öffnen.

Die Digitalisierung macht vor der Archäologie nicht Halt. Wie beeinflusst sie deine Arbeit?
Die Digitalisierung ist extrem wichtig. Dank ihr können wir alles schnell und genau dokumentieren. So können wir heute z. B. 3-D-Abbildungen der Katakombengänge anfertigen und danach sehr bequem Grabstatistiken erstellen. Die Digitalisierung ermöglicht es, große Datenmengen einfach zu bewältigen. Alle Inschriften lassen sich etwa über Datenbanken erschließen. Namen und Altersangaben werden erfasst usw.

Wie muss man es sich vorstellen, wenn du in die Katakomben hinabsteigst?
Jeder Besuch ist eine kleine Expedition in völlige Dunkelheit, daher müssen Akkus von Taschenlampen und Fotoapparat geladen, sensible Messinstrumente verpackt und Routen auf Karten vorbereitet werden.

Hast du einen Schlüssel für die Katakomben?
Nein, früher, wenn man regelmäßig in den Katakomben gearbeitet hatte, erhielt man einen Schlüssel. Heute geht man sehr viel strenger vor. Man kommt als externer Forscher nicht mehr ohne Begleitung in die Katakomben.

Wenn du ein Forschungsobjekt neben den Katakomben frei auswählen dürftest, welches würdest du dir wünschen?
Wir stellen gerade einen Antrag, in Ostia eine Kirche ausgraben zu dürfen. Das wäre ein sehr schönes, interessantes Projekt. Darüber würde ich mich sehr freuen.

Wie sieht die Archäologie der Zukunft aus? Was wird sie von uns ans Tageslicht bringen?
Die Methoden werden, wie schon gesagt, zunehmend komplexer. Das betrifft unter anderem auch die Analyse antiker DNA. Die Ausgrabungen selbst sind aufwendig und daher teuer. Es finden häufig große Erdbewegungen statt. Künftig wird man jedoch dank neuer Methoden die Bereiche, wo es sich lohnen könnte, zu graben, exakter festlegen können. Wie man forscht, wird feiner und wo man forscht, genauer. Was von uns bleibt? Den Möglichkeiten, unser Leben aus Datenbanken auszulesen, werden einmal keine Grenzen gesetzt sein. Zukünftige Archäologen werden wahrscheinlich erforschen, welche Krankheiten wir hatten, ob wir geimpft waren oder nicht – und warum wir 100.000 Tote in den Jahren 2020/21 hatten. Es wird für Wissenschaftler der Zukunft sehr spannend sein, zu sehen, wie wir mit der aktuellen Pandemie umgegangen sind.
(Susanne Rothe)

Das DAI
Die Aufgabe des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) ist die weltweite archäologisch-altertumswissenschaftliche Forschung. Mit seinen Forschungsprojekten schafft das DAI eine wichtige Grundlage für den Dialog zwischen Kulturen, für die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit und für den Erhalt des kulturellen Erbes. Das DAI ist auf fünf Kontinenten in über 350 Projekten tätig. dainst.org