Der Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ ist eine Komposition von Modest Mussorgski aus dem Jahr 1874, das heißt: Sie ist heute exakt 143 Jahre alt. Die einzelnen Sätze beschreiben Bilder von Mussorgskis kurz zuvor verstorbenen Freundes Viktor Hartmann. Der Reichtum der Klangfarben regte schon früh andere Komponisten an, das Werk auch für Orchester und andere Instrumentalbesetzungen zu bearbeiten. Die bekannteste Bearbeitung ist die von Maurice Ravel. Jetzt haben zwei Bonner Musiker ein neues Kapitel der „Bilder einer Ausstellung“ geschrieben: Marcus Schinkel und Johannes Kuchta haben in den letzten zwei Jahren eine neue, moderne Version des Klassikers komponiert und ihre Neuinterpretation im Oktober in den Kölner EMI-Maarwegstudios aufgenommen: „Pictures 2020“.
Was hat euch motiviert, 143 Jahre nach dem ersten Zyklus, eine neue Version der „Bilder“ zu machen?
Schinkel: Wir beide kennen uns schon seit Jahren durch unterschiedliche musikalische Projekte in Bonn. Unabhängig voneinander haben uns die verschiedenartigen bestehenden Versionen der „Bilder“ musikalisch sehr beeinflusst. Die „Bilder“ sind die erste und vielleicht beste Programmmusik – die Umsetzung eines Themas oder eben Bildes in Musik. Außerdem sind es einfach tolle, zeitlose Kompositionen, die wunderbar für die eigene Interpretation geeignet sind.
Kuchta: In der 7. Klasse auf dem Gymnasium habe ich damals mein erstes Referat im Musikunterricht über die verschiedenen Versionen gehalten. Damals hatte mir die Synthesizerversion von Isao Tomita am besten gefallen. Meine Schwester besaß damals von allen Versionen Langspielplatten. Als Marcus mir dann von seinem Plan erzählte, eine neue Version herauszubringen dachte ich: „Hier kenne ich mich aus, hier kann ich etwas beitragen.“
Wie gestaltete sich eure Zusammenarbeit, und was zeichnet die herausgekommene Interpretation aus?
Schinkel: Von meinen Beethoven-Interpretationen bin ich es gewohnt, hemmungslos an klassische Vorbilder heranzugehen und diese neu zusammenzusetzen. Ziel ist es, dass die Melodien und Stimmungen erkennbar bleiben, diese aber mit neuem Leben gefüllt werden und zusätzlich als Schinkel bzw. Kuchta zu erkennen sind.
Kuchta: Wir haben glücklicherweise sehr unterschiedliche musikalische Schwerpunkte. Marcus ist einer der renommiertesten Jazz/Fusion-Keyboarder Deutschlands. Meines Wissens ist er der erste Pianist auf der Welt, der alle Beethoven-Symphonien für Jazztrio arrangiert hat. Ich stehe eher für einfachere, prägnantere Kompositionen oder Songs. Melodien und sogenannte „Hooks“, an denen man sich beim Hören festhalten kann, und die hoffentlich im Ohr bleiben. Meist brachte Marcus zu unseren Treffen interessante harmonische Interpretationen der „Bilder“ mit und ich habe dann Gesangslinie und Texte gemacht. Wichtig war es uns immer, dass die Texte nicht nur passten und oberflächlich „schön“ sind, sondern jeweils auch eine zusammenhängende Geschichte erzählen.
Ich weiß aus erster Hand, dass ihr ein eigenes Tonstudio in Bonn habt und auch für andere Produktionen dort aufnehmt. Was hat euch diesmal in das Kölner EMI Studio verschlagen?
Schinkel: Wir sind eine Band mit Keyboards, Vocal, Drums, Bass und wollten alles wie bei einem Live-Konzert in „Echtzeit“ aufnehmen. Das Maarwegstudio in Köln hat große, getrennte Aufnahmeräume, in denen man sich zwar durch die Glasscheiben sehen kann, die Aufnahmen sind aber nach Instrumenten getrennt bearbeitbar. Das heißt zum Beispiel, dass das laute Schlagzeug nicht mit auf die Klavierspur kommt. Dies gibt uns die Möglichkeit, lebendig „live“ einzuspielen, aber das eine oder andere doch noch nachher zu bearbeiten.
Kuchta: Das alte EMI Studio in Köln hat eine tolle Stimmung und Tradition. Dort haben Weltstars wie Tina Turner, Joe Cocker, Marlene Dietrich aufgenommen. Jeder Zentimeter atmet Geschichte und die technische Ausstattung ist top. Dazu kommt, dass der Produzent unseres schönen Projektes, Jon Caffery, sich dort wie zu Hause fühlt und alle Lokalitäten gut kennt. Wir haben fünf Tage von morgens bis spätabends gearbeitet. Danach sind wir am Abend mit unserem VW Bus nach Honnef gefahren, haben Wein getrunken, nochmal in die aktuellen Aufnahmen hineingehört und dann dort übernachtet. Das hatte etwas von einer Jungen-Ferienfreizeit.
Schinkel: Zu unserer Band gehören noch Wim de Fries (Schlagzeug) und Fritz Roppel (Bass). Das sind wunderbar vielseitige Musiker, bei denen man sicher sein kann, dass die von Johannes und mir losgeschlagenen musikalischen Tennisbälle schön wieder zurückgespielt werden.
Könnt ihr mir eines der neuvertonten Bilder der „Bilder einer Ausstellung“ beschreiben?
Kuchta: Wir haben alle Bilder musikalisch neu ausgedeutet und mit aktuellen Inhalten versehen. Das Bild „Goldberg und Schmyle“ von 1873 beschreibt stellvertretend für alle Menschen als Gegensatz einen sehr armen und einen sehr reichen Menschen. Wir haben den Blick auf die Menschheit aus etwas größerer Entfernung angesetzt: Ein Astronaut schaut aus der Luke seines Raumschiffes auf die Erde. Für Marcus und mich, wir mögen beide gerne Science-Fiction, hat der Blick auf die Erde von außerhalb etwas sehr Faszinierendes. Diese Distanz thematisieren wir im Song und im Titel jetzt neu: „Goldberg und Schmyle/From my point of view“.
Goldberg und Schmyle/From my point of view
I live in a dream with thousand mermaids by my side.
I dream there will never be a time after mine.
I guess, I am somewhere between Goldberg and the Schmyle.
You know, he just never had a chance.
Leaving the surface and writing the book,
beein a stranger to the road that I took.
Loosing the sight of my motherships lights
drifting apart while this day kills the night.
A smile‘s not a smile in electric lullabies.
From my point of view things seem close, nothing‘s far.
I hear every word, see things are calling out my name.
It‘s my turn to wash the shadows off the wall.
Cutting the trees in this garden of light
smiling in vain, this time loosing the fight.
From my point of view things are melting but true.
I’m chasing the skies concentrating on you“.
Wie geht es mit der CD und der Band jetzt weiter?
Kuchta: Die Aufnahmen wurden jetzt vom Studio in Köln in das Studio unseres Produzenten Jon Cafferey überspielt. Er hat unter anderem mit den „Toten Hosen“, „Einstürzenden Neubauten“ und den „Rainbirds“ gearbeitet. In Jons Studio wird dem Ganzen jetzt der letzte Schliff verliehen. Wir werden um Weihnachten vorzeigbare Aufnahmen haben, die Rough-Mixes klingen aber jetzt schon sehr schön. Hier hat jeder sein Bestes gegeben. Auch die Techniker. Wir haben für die Gesangsaufnahmen von unserem Audio Consultant Carlo Röder ein sehr seltenes altes Neumann-Röhrenmikrofon zur Verfügung gestellt bekommen. Das ist ein ganz dickes Ding, Baujahr 1957, mit einer extra Stromversorgung, die den ganzen Raum etwas aufgeheizt hat.
Schinkel: Wir haben im Januar ein paar erste Album-Release-Konzerte. Beispielsweise am 31.01. in der Harmonie in Bonn. Wir würden den Vertrieb natürlich gerne mit einem passenden renommierten Label wie zum Beispiel ACT machen, hier laufen gerade die Verhandlungen. Ansonsten machen wir es über das Label von Johannes „Phonosphere“.
Titelbild: Die Band VOYAGER IV beim Betrachten der „Bilder einer Ausstellung“ im freien Raum. An der Wand der Komponist des Originalwerkes Modest Mussorgski. © Lieve Vanderschaeve
Pressestimmen:
„absolut beeindruckend“, „dynamische und filigrane Aufnahmen“, „hier ist wirklich etwas Neues entstanden“.
Ingo Saager, Journalist, „German Rock“ Magazin