Ulrich Heesen ist der Herr gewebter Träume. In seinem Atelier Wand & Raum am Rande der Bad Godesberger Innenstadt lagert ein großes Archiv historischer Stoffmuster. Ihr Wert: ungefähr 480.000 Euro. Wer möchte, kann sich bei Ulrich Heesen Vorhänge nähen, Sofas oder Stühle beziehen und historische Sitzmöbel aufarbeiten lassen. Doch nur zehn Prozent seiner Kundschaft kommt aus dem privaten Bereich. Wand & Raum arbeitet vor allem im öffentlichen Sektor, sucht und verarbeitet Stoffe für Schlösser, Museen und Rathäuser. Wir haben Ulrich Heesen in seiner textilen Welt besucht.
Ulrich Heesen Wand und Raum

Ulrich Heesen im Atelier Wand & Raum

Wow! Dieses Wort kommt uns spontan über die Lippen, als wir den Geschäftsbereich von Wand & Raum betreten. Von außen ist das Unternehmen eher unauffällig, passt sich der Häuserzeile, in der es steht, perfekt an. Wir schließen die schwere Türe – und der Straßenlärm bleibt draußen. Nichts dringt mehr durch die dicke Verglasung. Wir tauchen ein in eine Welt feinster Gewebe. Ulrich Heesens Leidenschaft für Stoffe ist überall spürbar. Die raumhohen Regale sind voll mit edlen Gewebmustern aus Paris, London, Rom und der Toskana. Eines ist prächtiger als das andere. Heesens Leidenschaft ist ansteckend: Einmal mit den Fingern über den prächtigen Brokat streichen, nur ganz kurz die Weichheit des Samts erfühlen – die Versuchung ist groß. „Begreifen“ – im taktilen Sinne – möchten wir die Faszination der Stoffe. Das Fühlen von Stoffen ist für Heesen selbstverständlich. „Heute werden Textilien nur noch nach der Optik gekauft, aber nicht mehr danach, wie sie sich anfassen“, bedauert er. Und dann zeigt er uns ein ganz besonders feines Exemplar. Vorsichtig holt er aus einem weißen Stoffsack eine Rolle hervor und rollt sie auseinander. Ein 85 x 85 cm großes Tuch kommt hervor, noch abgedeckt mit dünnem, weißem Papier. „Dieses Tuch kann man nicht kaufen“, sagt er. Woher hat er es dann? „Das habe ich geerbt“, erklärt er und erzählt, dass das Tuch aus Japan stammt und mit feinsten Fäden aus echtem Gold gewebt wurde. 30 bis 40 Jahre habe es gedauert, bis dass das Tuch fertig gewesen sei. Nahezu eine Lebensaufgabe. Stoffe erzählen Geschichten und Ulrich Heesen hört ihnen zu.

Wohin man schaut: Überall sind Stoffe. Wissen Sie genau, wo hier was liegt?
Ja, ich kenne alles auswendig. Diese Stoffsammlung ist über 20 Jahre gewachsen, solange betreibe ich bereits das Geschäft. Ich kenne zum Teil auch persönlich die Manufakturen, in denen die Stoffe gewebt werden. Frankreich und England sind die Länder, mit denen wir, was Stoffe betrifft, überwiegend zusammenarbeiten. Auch in Deutschland gibt es noch einige wenige Webereien, mit denen wir arbeiten.

Kanzlersofa
Im Kanzlerbungalow: Die geringe Höhe der Rückenlehne des Kanzlersofas und die fest verpolsterten Chesterfieldflächen bedingen ein komfortables Sitzgefühl.

Mitten in diesem Stoffmärchen steht das sogenannte Kanzlersofa. Wie passt das dazu?
Wir wurden 2008 im Zuge der Revitalisierung des Bonner Bundeskanzlerbungalows, mit dessen Bau Ludwig Erhard Sep Ruf beauftragt hatte, in alle textilen Maßnahmen eingebunden. Dazu gehörte auch der Nachbau des Sofas – Ausführung in Leder – aus der Zeit von Bundeskanzler Erhard. 2013 haben wir es dann noch einmal für den Deutschen Bungalow auf der Architekturbiennale in Venedig reproduziert, allerdings als Fragment. Das war sehr spannend. Das Sofa steht mittlerweile an sehr prominenten Orten unter anderem in der Ausstellung des Designmuseums ETA Zürich. Es verkörpert nicht nur Design aus den 1930er Jahren, sondern es repräsentiert auch seit 1963 ein Stück Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Man kann ein solches Sofa bei Ihnen fertigen lassen. Haben Sie selbst eines zu Hause stehen?
(lacht) Nein, ich habe Familie und da habe ich nichts zu sagen. Meine Frau ist für die Einrichtung verantwortlich.

Über dem mit strahlend grünem Stoff bezogenen Kanzlersofa hängt ein schwerer Holzbilderrahmen, in den ein in seiner Farbigkeit sehr lebendiger Stoff gespannt wurde.

Kanzlersofa
Das Kanzlersofa ist mehr als nur ein Sitzmöbel. Es verkörpert ein Stück Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Visualisierung des Schlafzimmers von Clemens August mit vorgeschlagenem Stoff und Trumeau-Siegel, sowie Supraporte

Was ist das für ein Stoff?
Das ist ein gedruckter Stoff aus Paris. Es ist ein Handdruck, der sehr hochwertig hergestellt wird. Ich möchte damit zeigen, wie vielfältig einsetzbar Stoffe sind. Damit ein Sofa zu beziehen, ist natürlich auch etwas Feines. Dafür muss man sein Handwerk allerdings sehr gut beherrschen. Es handelt sich um einen berühmten Stoff aus dem 18. Jahrhundert. Eine Zeit, in der man anfing, Stoffe zu bedrucken und nicht mehr zu weben. Jeder wollte an den schönen Stoffen teilhaben. Bei den Stoffen von GP & J Baker aus dem 18. Jahrhundert spiegelt sich die englische Kolonialgeschichte wider. Man hat die Vögel aus dem asiatisch/orientalischen Raum für die Stoffe so verändert, dass sie nach Europa passten. Was abgebildet ist, hat nichts mit der realen Natur zu tun. Diese Stoffe werden, wie Sie sehen, auch heute noch gefertigt. Baker ist ein traditionsreiches Unternehmen und hat schon im 18. Jahrhundert in den Brühler Schlössern die Supraporten gefertigt. 

Haben Sie unter den vielen textilen Schönheiten einen Lieblingsstoff?
Nein. Ich erfreue mich an dem Zusammensein mit all diesen Stoffen. In der Formensprache ist es immer die Frage, wie viel Form muss sein, damit man zufrieden ist. 

„Offenbarung durch Verhüllung“

Was sind Sie eigentlich? Historiker, Kunsthistoriker, Raumausstatter …?
Ich habe in Köln Kunstgeschichte studiert. Aber damit kann man kein Geld verdienen. Nach dem Studium habe ich zunächst im Vertrieb von Textilien gearbeitet. Später habe ich, ohne den Beruf des Raumausstatters gelernt zu haben, mein Unternehmen gegründet. Ich bin eigentlich hier der Einzige, der nichts kann. Ich kann keinen Nagel einschlagen und ich kann auch nicht nähen. Aber meine Mitarbeiter verstehen, was ich möchte, und so ziehe ich bei unseren Projekten die Fäden.

Wie sind Sie dann auf den Stoff gekommen?
Textil war immer meine Leidenschaft. Ich kann mich erinnern, dass ich mit meinen Eltern mit dem Fahrrad nach Brühl zu den Schlössern gefahren bin. Dort gab es dann die fantastischen Wandbespannungen, die ich zu gerne berühren wollte. Doch dafür gab es von den Wächtern eins auf die Finger.

Welche Bedeutung hat für Sie ein Stück Stoff?
Das ist zunächst etwas, was mit Fäden gebildet wird. Außerdem ist es ein Paradox: „Offenbarung durch Verhüllung“. Die ganzen monotheistischen Religionen stellen sich durch Verhüllung da. Beispielsweise bei den Katholiken ist es das Tabernakel, das etwas verhüllt, und im Judentum die Thora, die verhüllt wird. Wir heißen Wand & Raum, da ist das, was verhüllt wird, vorgegeben. Schon früh wurden Garne hergestellt, aus denen man etwas herstellte, mit dem man verhüllen konnte.

Schloss Drachenfels
Schloss Drachenburg – ausgestattet mit imposanten, dem historistischen Stil entsprechenden Fensterdekorationen und Polsterarbeiten.
Junges Theater Bonn

Junges Theater Bonn

Woran arbeiten Sie gerade?
Fünf meiner Mitarbeiter sind in Dresden. Wir arbeiten dort in den Retiraden August des Starken, die als Ausstellungskabinette hergerichtet und von Frau Merkel dann Ende September eingeweiht werden. Das ist der Hype, was wir im Moment machen. Wir sind für die Bespannung der Vitrinen sowie die Wandbespannungen der beiden großen Säle zuständig. Es war sehr aufregend, bis die Entscheidung über den Stoff feststand.

Was war das Problem?
Wir haben den Stoff, einen Rips, vorgegeben bekommen, doch die Weberei in Lyon schaffte es nicht, ihn rechtzeitig zu weben. Wir mussten dann eine Weberei finden, die den Rips nicht nur in einer bestimmten Farbe, sondern auch noch sehr schnell nachweben konnte. Wir nahmen Kontakt zu zwei Unternehmen auf, einem in der Schweiz und einem in Salamanka. Die lieferten uns Muster, die dann vom Fraunhofer Institut untersucht wurden, bevor sie mit den Ausstellungstücken in Berührung kommen. Die spanische Firma hat den Auftrag erhalten, sämtliche Mitarbeiter nicht in den Urlaub geschickt und den Stoff gewebt. Vor Ort machen wir gerade die Wandbespannungen und hier im Atelier nähen wir die Stoffe für die Vitrinen.

Was passiert, wenn Sie zum Beispiel demnächst nach Dresden kommen und feststellen, dass Sie mit der Arbeit nicht zufrieden sind?
Da im Vorfeld alles sehr genau festgelegt wird, passiert das nicht. Es werden immer wieder Muster genäht, wonach exakt gearbeitet wird. Es steht bei jedem Teil, das wir fertigen, genau fest, wie die Nähte zu laufen haben.

Villa-Hammerschidt
Villa-Hammerschidt
In der Villa Hammerschmidt sollten die Empire-Interieurs des spätklassizistischen Bauwerks mit helltoniger Seide in aufwendiger Näharbeit vervollständigt werden.

„ Bei uns geht es nicht um Stoffe für den schnellen Konsum.“

Historische Neupolsterung von „Rokokosesseln”

Historische Neupolsterung von „Rokokosesseln”

Wie viel Logistik steckt hinter Ihrer Arbeit?
Sehr viel. Alleine für die Näharbeiten werden Pläne erarbeitet, die jeden Arbeitsschritt im Detail festlegen.

Wie groß ist die Konkurrenz in Bezug auf die öffentlichen Aufträge?
Ich kann Ihnen ein Bespiel nennen. In Dresden haben sich vier Unternehmen beworben. Da wird dann nach dem Preis, den Referenzen und nach einem Muster entschieden. Wir waren die Teuersten und haben den Auftrag erhalten. Im öffentlichen Bereich holt man sich Auskünfte darüber ein, wie die jeweiligen Unternehmen arbeiten. Dabei geht es auch darum, ob man in der Lage ist, die Termine einzuhalten.

Haben Sie ein Lieblingsprojekt?
Oh ja, das sind die Brühler Schlösser. Dort arbeiten wir seit 20 Jahren. Wir sind die einzigen Raumausstatter, die dort hereingelassen werden. Die Preise werden sicherlich verglichen, aber man sieht auch, was wird dort seit sehr vielen Jahren geleistet haben. Wir machen gerade, wie schon gesagt, die Tabourets, außerdem den Sonnenschutz für Falkenlust. Wir planen außerdem in der Umgestaltung der Orangerie zum Restaurant mit.

Was fasziniert Sie an Ihrer Arbeit am meisten?
Dass ich abends zufrieden nach Hause gehe und immer sehen kann, was wir gemacht haben. Das ist ein schönes Gefühl.

Wie viele Mitarbeiter haben Sie?
Neun Mitarbeiter, darunter zwei hoch ausgebildete syrische Näher, die wir gezielt über eine Agentur von syrischen Arbeitsvermittlungen gesucht haben. Wir brauchten Spezialisten und haben sie zum Glück gefunden. Am besten bildet man selbst aus, aber es ist sehr schwer, Lehrlinge zu finden. Immer mehr Raumausstatter machen zu, weil ihnen der Nachwuchs fehlt.

Woran erkenne ich einen hochwertigen Stoff?
Das kommt erst einmal auf das Using an – also wofür brauche ich den Stoff. Dann spielt das Garn eine Rolle. Wenn ich zum Beispiel viel Natur wie Seide, Wolle oder Baumwolle zulasse, dann wird es teurer. Dann spielt das Design des Stoffes eine Rolle, wozu die Webtechnik und das Muster gehören. Das sind alles Faktoren, die zählen. Da bei uns die Historie eine Rolle spielt, haben wir einen anderen Blick auf die Wertigkeit. Bei uns geht es nicht um Stoffe für den schnellen Konsum. Ein weiterer Faktor ist, woher ich einen Stoff beziehe. Für uns ist ein Stoff, hinter dem sozial unverträgliche Arbeit steckt, ein No-Go, auch wenn er preiswerter ist. (Susanne Rothe)

Ulrich Heesen Wand und Raum
Ulrich Heesen Wand und Raum
Ulrich Heesen Wand und Raum
Ulrich Heesen Wand und Raum
Ein 10 Meter hoher „Textilturm” sowie drei kleine Kinos (Deckenbespannung und Wandverkleidung) wurden für die Ausstellung „Kino der Moderne” in der Bundeskunsthalle gebaut.

wand-raum.com

Fotos: P. M. J. Rothe (2), Wand & Raum (14)