Jeden Tag kommen in Deutschland rund 20 Kinder mit einem angeborenen Herzfehler zur Welt. Die Diagnose verändert das Leben der betroffenen Familien auf einen Schlag und ist für die Kinder der Beginn eines oftmals jahrelangen Operations- und Behandlungsmarathons. Seit 1989 setzt sich kinderherzen – Fördergemeinschaft Deutsche Kinderherzzentren e.V. (kurz kinderherzen) für diese Kinder und ihre Familien ein. Der in Bonn ansässige Verein ist zu 100 Prozent spendenfinanziert und kämpft dafür, dass „… kleine Herzen groß werden“. Die Fördergemeinschaft betreibt aktiv Forschung für neueste medizinische und wissenschaftliche Standards, fördert Operations- und Therapieangebote und ist seit zehn Jahren auch im Ausland im Einsatz. Im Mai war kinderherzen in Rumänien. Dort hat ein Team aus ehrenamtlich tätigen Ärzten und medizinischem Pflegepersonal 13 kranke Kinder an nur vier Tagen operiert. RHEINexklusiv hat kinderherzen-Geschäftsführer Jörg Gattenlöhner und Anja Schlarb, die in Rumänien für die Fördergemeinschaft dabei war, zu einem Gespräch getroffen.
Ben, 3 Jahre, lebt mit einem halben Herz
Ben, 3 Jahre, lebt mit einem halben Herz

Seit etwas über 30 Jahren setzt sich die Fördergemeinschaft Deutsche Kinderherzzentren für Kinder mit angeborenem Herzfehler ein. Was hat sich in diesen drei Jahrzehnten verändert?
Gattenlöhner: Unglaubliches. Die heutige Situation ist mit der von vor 30 Jahren nicht zu vergleichen. Die Lage herzkranker Kinder hat sich durch die Entwicklung im Gesundheitssektor, in der Medizintechnik sowie durch moderne Therapien immens verändert. Vor 30 Jahren ist noch jedes fünfte Kind, das einen mittleren bis schweren Herzfehler hatte, gestorben. Mittlerweile überleben 98 Prozent. Aber auch für den Verein selbst hat sich viel geändert. kinderherzen wurde gegründet, um das erste Kinderherzzentrum aufzubauen. So entstand das Deutsche Kinderherzzentrum Sankt Augustin. Heute sind wir bundesweit aktiv und engagieren uns auch international.

Was macht der Verein konkret?
Gattenlöhner: Säulen unseres Handelns sind Forschung, Therapie, die Ausstattung von Kinderherzzentren, die Ausbildung von Fachpersonal und die gerade erwähnte internationale Nothilfe. Wichtig ist: Wir fördern nicht nur Projekte, sondern wir initiieren sie. So geben wir in der Forschung Studien in Auftrag, um unter anderem herauszufinden, ob und welche neurologischen Folgen bei einem Kind auftreten können, das an einer Herz-Lungen-Maschine angeschlossen war. Ein anderes von uns initiiertes Projekt befasst sich damit, eine Herzklappe zu entwickeln, die mit dem Kind mitwächst, damit es nicht immer wieder operiert werden muss. Das wäre ein großer Fortschritt in der Behandlung. Weiterbildung ist ein anderes großes Thema.

Wen sprechen Sie damit an?
Gattenlöhner: Zum einen Ärzte und medizinisches Pflegepersonal. Im Besonderen Kinderkardioanästhesisten. Diese Spezialisten kann man in Deutschland an vier Händen abzählen. Sie sind eine Gruppe, die sich lange Zeit nicht einmal untereinander kannte. Seitdem wir ihren fachlichen Austausch fördern, hat sich dies geändert.

Kleine Herzpatienten wie Freya und Lucie werden in der kinderkardiologischen Ambulanz der Uniklinik Bonn bestens betreut.
Kleine Herzpatienten wie Freya und Lucie werden in der kinderkardiologischen Ambulanz der Uniklinik Bonn bestens betreut.

An was arbeitet der Verein aktuell?
Gattenlöhner: Wir arbeiten an sehr vielen Projekten, aber es gibt ein regionales, auf das ich gerne genauer eingehen möchte. Wir haben in Bonn eine regionale Dependance, die sich auf dem Venusberg am Kinderherzzentrum befindet. Diese spezielle Kinderherzstiftung ist nur für betroffene Kinder aus der Region zuständig. Für sie und ihre Familien entwickeln wir gerade eine kinderherzen-App. Die Idee dazu geht auf Berichte von Eltern betroffener Kinder zurück. Sie schilderten uns, dass sie, als sie erstmals die Diagnose ihrer Kinder genannt bekommen hätten, sich furchtbar erschrocken, dann im Internet recherchiert und schließlich durch die ungefilterten Informationen noch mehr Angst bekommen hätten. Wir möchten ihnen mit der App, die bis Ende 2021 fertig sein soll, ein Tool an die Hand geben, über das sie sich fachlich informieren können und das ihnen in jeder Hinsicht Unterstützung bietet. Wir arbeiten dabei eng mit Ärzten, Pflegepersonal und Herzfamilien zusammen.

Wie wichtig ist der Kontakt zu den Herzfamilien?
Gattenlöhner: Wir sind kein Selbsthilfeverein. Aber über die Jahre entwickelt sich natürlich ein Kontakt zu betroffenen Familien. Der Kontakt zu ihnen, den Ärzten und dem Pflegepersonal ist genauso wichtig wie der zu den Wissenschaftlern und anderen Netzwerken und Verbänden. Wir erhalten durch die Familien ungeschönte und direkte Informationen darüber, wo „der Schuh drückt“. Wir arbeiten nicht in irgendeiner Blase.

Nimmt Sie das Schicksal der Kinder mit?
Gattenlöhner: Wenn ich einen Auslandseinsatz begleite, komme ich hierhin zurück und bin die ersten Tage sehr dünnhäutig. Wir alle können uns von den Erlebnissen vor Ort nicht verschließen. Es gibt Kinder, die begleiten uns über Jahre, weil ihre Behandlung sich über einen langen Zeitraum erstreckt. Manchmal stirbt das Kind dann trotz aller Fortschritte. Das macht einfach sprachlos. Ich habe einen Fall erlebt, da starb ein kleines Mädchen, das wir auf verschiedenen Werbeträgern abgebildet hatten. Aus Rücksicht auf das Kind und die Eltern wollten wir die Bilder nicht mehr einsetzen. Die Eltern waren dagegen und sagten, dass ihre Tochter auch dank unserer Arbeit überhaupt so lange hätte leben können und sie darüber sehr glücklich seien. Sie machten deutlich, dass sie trotz schwerer Zeiten keinen Tag missen wollten, den sie ihre Tochter länger gehabt hätten.

„In Eritrea haben wir sogar ein eigenes internationales Operationszentrum für Kinder aufgebaut.“

Kann eine Familie mit einem Kind, das einen angeborenen Herzfehler hat, einfach bei Ihnen anrufen und um Rat fragen?
Schlarb: Wir haben keine Nothotline, aber man kann bei Fragen und Problemen bei uns anrufen. Wir sind natürlich keine Ärzte, aber wir können beispielsweise Klinikadressen oder andere Anlaufstellen und Kontaktpersonen benennen. Wir geben keine Empfehlungen aus.

Warum sollte ich für kinderherzen spenden?
Schlarb: Weil wir zu 100 Prozent aus Spenden finanziert sind. Wenn wir keine Spenden bekommen würden, könnten wir keine Kinderleben retten.

Wie groß ist Ihr Team?
Gattenlöhner: Wir sind 15 festangestellte Kollegen, davon arbeiten einige in Teilzeit. Hinzu kommen 250 ehrenamtliche Ärzte, Pfleger sowie Kardiotechniker plus 80 ehrenamtliche Kräfte aus dem nichtmedizinischen Bereich, darunter sind Eltern und Großeltern von betroffenen oder ehemals betroffenen Kindern.

kinderherzen ist in der Öffentlichkeit relativ wenig bekannt, woran liegt das?
Gattenlöhner: Ein Grund ist, dass das Thema „herzkranke Kinder“ grundsätzlich wenig präsent ist. Jeden Tag kommen allein in Deutschland rund 20 Kinder mit einem Herzfehler zur Welt. Trotzdem wird ihnen kaum Öffentlichkeit geschenkt. Wenn man das Thema explizit anspricht, ist eine hohe Bereitschaft da, zu spenden. Aber zunächst einmal ist es nicht im Bewusstsein der Menschen vorhanden. Das liegt natürlich auch an mangelnder Werbung. Wir nehmen keine Spenden ein, um Spendenwerbung zu machen, sondern um damit einen medizinischen Bedarf zu decken. Ein anderes Problem ist, dass die Anzahl der herzkranken Kinder groß ist, aber nicht groß genug, um das Interesse der Industrie zu wecken. Das trifft auf die Forschung ebenso wie auf die Gerätetechnik zu. Es gab zum Beispiel über viele Jahre keine Herz-Lungen-Maschine für Kinder. Eigentlich undenkbar. Das hat sich jedoch zum Glück geändert.

Es gibt auch Erwachsene mit angeborenem Herzfehler, die kinderherzen unterstützt.
Gattenlöhner: Wir betreuen Jugendliche, die mit einem Herzfehler geboren wurden. Für diese Gruppe gibt es eigene Forschungsprojekte. Hintergrund ist, dass man bei einigen Herzfehlern nicht weiß, wie sie sich nach zehn oder 15 Jahren auswirken. Das wird untersucht. Die nächste Gruppe sind die EMAH, Erwachsene mit angeborenem Herzfehler. Das ist eine Gruppe, die jahrelang keine Probleme hatte. Betroffene haben zum Teil vergessen, dass sie mit einem Herzfehler geboren wurden und plötzlich macht das Herz wieder auf sich aufmerksam. Das ist ebenfalls ein eigener Forschungsbereich, den wir fördern.

Erschöpft, aber glücklich: Kaffeepause nach einem langen erfolgreichen OP-Tag in Eritrea. (Herzteam mit Gründer und Herzchirurg Dr. Andreas Urban (rechts) und Geschäftsführer Jörg Gattenlöhner (Mitte)
Erschöpft, aber glücklich: Kaffeepause nach einem langen erfolgreichen OP-Tag in Eritrea. (Herzteam mit Gründer und Herzchirurg Dr. Andreas Urban (rechts) und Geschäftsführer Jörg Gattenlöhner (Mitte)

Sie verlieren die Kinder also nicht aus den Augen …
Gattenlöhner: Das könnte man so sagen. Diese Kinder bleiben uns und vor allem auch ihren Operateuren immer verbunden.

Sie sind mittlerweile international ausgerichtet, wie kam es dazu?
Gattenlöhner: Vor einigen Jahren haben wir damit begonnen, Kinder aus dem Ausland nach Deutschland zu holen und an den Kinderherzzentren zu operieren. Wir haben uns irgendwann die Frage gestellt, ob es nicht sinnvoller wäre, die Kinder in ihrer Heimat zu operieren. Die ersten Operationen haben wir in Eritrea und in El Salvador durchgeführt. In Eritrea haben wir sogar ein eigenes internationales Operationszentrum für Kinder aufgebaut. Für die Kinder hat dieses Vorgehen den großen Vorteil, dass sie in ihrer gewohnten Umgebung bleiben und es keine Sprachprobleme gibt. Zudem lernen die einheimischen Ärzte und Pfleger von den Operationsteams, die wir schicken. Ziel ist es, dass die einheimischen Mediziner diese Operationen einmal selbst durchführen können. Aber das ist noch ein langer Weg.

Planen Sie, diese Auslandseinsätze auszubauen?
Schlarb: Ja, wenn Corona nicht ausgebrochen wäre, hätten wir schon vergangenes Jahr unsere Auslandseinsätze in anderen Ländern durchgeführt. In Malawi, Ghana und Bolivien waren erste Besuche geplant, um die Strukturen vor Ort zu erkunden. Wir sprechen vor jedem Auslandseinsatz grundsätzlich mit Gesundheitsministerien, Krankenhäusern und Ärzten, die das Land kennen oder schon einmal dort gearbeitet haben.

Warum arbeiten Sie nicht mit „Ärzte ohne Grenzen“ zusammen?
Gattenlöhner: Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ haben große Erfahrung, aber behandeln keine Kinder, die einen angeborenen Herzfehler haben. Das ist viel zu speziell und technisch sehr aufwendig.

Das Schicksal der Kinder liegt dem gesamten Team am Herzen. (Sidonia, 9 Monate, und Anja Schlarb)
Das Schicksal der Kinder liegt dem gesamten Team am Herzen. (Sidonia, 9 Monate, und Anja Schlarb)

Wie gut oder wie schlecht sind die Bedingungen, unter denen in Ländern wie Eritrea oder El Salvador gearbeitet werden muss?
Schlarb: Dort trifft man schnell auf große medizinische und hygienische Herausforderungen. Eines unserer großen Projekte, für das wir Spenden benötigen, ist daher MOHKI – die weltweit erste mobile kinderherzen-Klinik. MOHKI besteht aus robusten, aber leichten Elementen eines neuartigen Kunststoffes, trägt alle medizinischen Geräte in sich, funktioniert unabhängig von lokaler Stromversorgung und passt in Transportcontainer. Nächstes Jahr soll MOHKI in El Salvador als Pilotland in den Einsatz gehen.

Das ist kein Spaziergang, bekommen Sie dafür ohne weiteres medizinisches Personal?
Schlarb: Das Problem ist immer, dass wir Spezialisten benötigen, die, weil sie rar sind, sehr gefragt sind. Die Ärzte operieren die Kinder in ihrem Urlaub – unterstützt von weiterem medizinischen Fachpersonal. Aber wer einmal mitgemacht hat, der möchte immer wieder dabei sein. Wir bilden gerade für die MOHKI-Pilotphase Teams. Zwei sind schon sicher. Wir benötigen noch ein drittes, damit jedes Team eine Woche arbeitet. Zwei bis drei Mitarbeiter von uns begleiten das medizinische Personal und kümmern sich um die ganze Organisation vor Ort. Wir sammeln nicht nur Geld, sondern sind mittlerweile tief in den Themen verankert.

Ihr letzter Auslandseinsatz fand vor wenigen Wochen in Rumänien statt.
Schlarb: Ja, wir haben dort eine gut ausgestattete Klinik vorgefunden, der aber medizinisches Fachpersonal fehlte. Unser Team hat 13 Kinder in nur vier Tagen operiert. Das hat funktioniert, weil wir viele waren und Prozesse parallel laufen konnten. Das Besondere war, dass Menschen zusammengearbeitet haben, die aus ganz Deutschland kamen und denen es gelang, zu einer Einheit zusammenzuwachsen. Die Kinder wurden auch noch nach ihrer OP von uns betreut, da auch die rumänischen Intensivkräfte derzeit nicht das fachliche Know-how haben. Das bedeutete, von dem 20-köpfigen Team wurden auch Nachtschichten auf der Intensivstation geleistet. Wir alle freuen uns, wenn Corona im Griff ist und wir mit den Auslandseinsätzen wieder richtig durchstarten können. So viele  Kinder warten seit ihrer Geburt mit einem kranken Herzen auf Hilfe. (Susanne Rothe)

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Fotos: © kinderherzen – Fördergemeinschaft Deutsche Kinderherzzentren e.V. (9)