Der Urlaubsanspruch hat sich in den letzten Jahren zum arbeitsrechtlichen Dauerbrenner entwickelt. Nach mehreren Urteilen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wurden die jahrzehntelang anerkannten Grundsätze zum Verfall von Urlaubsansprüchen am Jahresende bzw. am 31. März des Folgejahres auf den Kopf gestellt. Die Entwicklung der Rechtsprechung befindet sich weiterhin im Fluss. Was müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Praxis aktuell beachten?

An sich regelt § 7 des Bundesurlaubsgesetzes eindeutig, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaub im laufenden Kalenderjahr nehmen muss und dass er anderenfalls am Jahresende verfällt. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr sieht das Gesetz nur bei dringenden betrieblichen oder in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen vor, die der Gewährung des Urlaubs im laufenden Kalenderjahr entgegenstehen. In diesen Fällen muss der Urlaub allerdings bis zum 31. März des Folgejahres genommen werden. Ansonsten verfällt der Urlaubsanspruch ersatzlos. Hierbei war der Arbeitnehmer bislang gehalten, den Urlaub rechtzeitig zu beantragen. Der Arbeitgeber musste in diesem Bereich nicht von sich aus tätig werden. Jedoch unterliegt das Urlaubsrecht den Vorgaben der europäischen Arbeitszeitrichtlinie und somit der oftmals strengeren Rechtsprechung des EuGH, was zu einer Änderung der Auslegung des deutschen Urlaubsrechts führt.

Kein Verfall bei langer Krankheit

Diese gesetzliche Regelung hat die Rechtsprechung zunächst für solche Fälle eingeschränkt, in denen ein Arbeitnehmer sehr lange arbeitsunfähig ist. Wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt keine Möglichkeit hat, seinen Urlaubsanspruch zu realisieren, dann könne – so das BAG – der Anspruch auch nicht verfallen. Während dies auf den ersten Blick einleuchtet, stellt sich als nächstes die Frage, ob Arbeitnehmer im Falle einer jahrelangen Krankheit unbegrenzt Urlaub „ansparen“ können. Um dies zu verhindern, entwickelte das BAG im nächsten Schritt die Regel, dass der Urlaubsanspruch spätestens 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlischt. Selbst bei lange andauernder Krankheit ist also beispielsweise der Urlaub für das Jahr 2019 mit Ablauf des 31.03.2021 verfallen.

Kein Verfall ohne Hinweise

Im Jahr 2019 folgte nach einer Entscheidung des EuGH ein weiteres Urteil des BAG, das den Verfall von Urlaubsansprüchen noch einmal erheblich einschränkte. Während es bisher in der alleinigen Verantwortung des Arbeitnehmers lag, den Urlaub rechtzeitig zu beantragen, wird dieses System durch die aktuelle Rechtsprechung auf den Kopf gestellt. Das BAG ist zwar nach wie vor der Ansicht, dass der Arbeitgeber nicht gezwungen sei, dem Arbeitnehmer von sich aus Urlaub zu gewähren. Allerdings obliege dem Arbeitgeber die „Initiativlast“ für die Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Darin liegt eine Umkehrung der bisherigen Rechtslage. Gemeint ist nämlich, dass es nicht in erster Linie Aufgabe des Arbeitnehmers sei, durch Beantragung von Urlaub dafür zu sorgen, dass sein Urlaubsanspruch erfüllt wird. Stattdessen soll es die Aufgabe des Arbeitgebers sein, darauf hinzuwirken, dass der Arbeitnehmer Urlaub nimmt. Urlaub soll nur noch dann verfallen können, wenn der Arbeitgeber alles ihm Mögliche getan hat, damit der Arbeitnehmer seinen Urlaub nimmt.

Hinweispflichten auch bei Krankheit

Im letzten Jahr hat das BAG diese Grundsätze weiterentwickelt und klargestellt, dass die Hinweispflichten des Arbeitgebers auch bei lang andauernder Krankheit bestehen. Ein Verfall ohne einen ordnungsgemäßen Hinweis kommt nach der jüngsten Rechtsprechung nur dann in Betracht, wenn der Arbeitnehmer im gesamten für den Urlaub zur Verfügung stehenden Zeitraum krank war, also sowohl im Urlaubsjahr als auch in den darauffolgenden 15 Monaten. Um diese Hinweispflicht ordnungsgemäß erfüllen zu können, bedarf es durchaus guter Kenntnisse der inzwischen recht komplizierten Rechtslage beim Verfall von Urlaubsansprüchen.

Folgen für die betriebliche Praxis

Die konkreten Anforderungen an die vom Arbeitgeber zu ergreifenden Maßnahmen sind sehr hoch. Zunächst muss er den Arbeitnehmer seinerseits dazu auffordern, Urlaub zu nehmen. Weiterhin hat er dem Arbeitnehmer klar und rechtzeitig mitzuteilen, dass der Urlaub verfallen wird, falls der Arbeitnehmer ihn nicht in Anspruch nehmen sollte. Nur wenn eine derart transparente Aufforderung und Belehrung über den konkreten (Rest-)Urlaubsanspruch und die Verfallfristen erfolgt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat, kommt ein Verfall in Betracht. Da der Arbeitgeber die Erfüllung der Hinweispflicht im Streitfall beweisen muss, bedarf es an dieser Stelle einer rechtssicheren Dokumentation darüber, dass jeder einzelne Arbeitnehmer ordnungsgemäß belehrt wurde. Die Aufforderung kann bereits mit einer Mitteilung über den Gesamtjahresurlaubsanspruch zum Jahresbeginn erfolgen oder aber im Laufe des Jahres – aber so, dass die Urlaubsnahme noch möglich ist. Dabei ist grundsätzlich auch auf noch nicht verfallenen Urlaub früherer Jahre hinzuweisen. Inwieweit sich dies empfiehlt, bedarf aber der sorgfältigen Abwägung im Einzelfall.

Chancen und Risiken

Da ein solches Vorgehen in der betrieblichen Praxis in Deutschland bisher nicht üblich war, können Arbeitnehmer jetzt vermeintlich verfallenen Urlaub der letzten Jahre nachfordern. Solche Forderungen werden spätestens dann gestellt, wenn es zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses kommt. Hierin liegt für den Arbeitnehmer ein mitunter großes finanzielles Potential und für den Arbeitgeber ein entsprechend hohes Risiko. Dies zeigt auch der Fall, der dem Urteil des BAG zur Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers zugrunde lag. Hier hatte der klagende Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Abgeltung des von ihm nicht genommenen Urlaubs im Umfang von 51 Arbeitstagen verlangt und knapp 12.000 Euro brutto geltend gemacht, die ihm bei mangelnder Mitwirkung zustehen.

Risikobegrenzung für Arbeitgeber

Für Arbeitgeber besteht die Möglichkeit, dieses Risiko zumindest teilweise zu begrenzen. Die Rechtsprechung gilt nämlich nur für den gesetzlichen Mindesturlaub von vier Wochen zwingend. Für einen darüber hinausgehenden vertraglichen Urlaubsanspruch sind abweichende Regelungen im Arbeitsvertrag möglich. Auf diese Weise besteht für den vertraglichen Mehrurlaub die alte Rechtslage fort. Enthält der Arbeitsvertrag hierzu keine besonderen Vorschriften, bleibt es hingegen auch für den vertraglichen Mehrurlaub bei den Grundsätzen der neuen Rechtsprechung. Darüber hinaus ist eine zeitliche Begrenzung des Risikos für den Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses möglich, indem im Arbeitsvertrag eine Ausschlussfrist vereinbart wird. Danach sind Ansprüche binnen einer bestimmten Frist von üblicherweise drei Monaten geltend zu machen. Derartige Ausschlussfristen finden zwar auf die Urlaubsansprüche im laufenden Arbeitsverhältnis keine Anwendung. Der Urlaubsabgeltungsanspruch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird jedoch sehr wohl erfasst.

Ausblick

Gegenwärtig sind weitere Fragen zum Verfall von Urlaubsansprüchen oder einer möglichen Verjährung beim BAG und dem EuGH anhängig, die noch in diesem Jahr entschieden werden könnten. Aufgrund der Dynamik in diesem Bereich lohnt es sich, die Entwicklung zu verfolgen und die betriebliche Praxis laufend an die Entwicklungen in der Rechtsprechung anzupassen.

Fotos: Busse & Miessen (2), istockphoto.com/monkeybusinessimages

Unsere Gastautoren: Dr. Andreas Nadler und Dr. Florian Langenbucher

Rechtsanwalt Dr. Andreas Nadler
Rechtsanwalt Dr. Andreas Nadler

Dr. Andreas Nadler ist Fachanwalt für Arbeitsrecht. Er ist Partner in der Kanzlei Busse & Miessen Rechtsanwälte. Gemeinsam mit Rechtsanwalt Dr. Florian Langenbucher berät er Sie in allen Bereichen des Arbeitsrechts.

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Rechtsanwalt Dr. Florian Langenbucher
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