Wie immersive Ausstellungen alten Werken neues Leben einhauchen oder eine neue Kunstform definieren.

Jeder hat Lieblingsbilder und vielleicht auch das eine oder andere berühmte Gemälde als Bildschirmhintergrund auf seinem Handy eingestellt. Das heißt aber noch lange nicht, dass man sich auch ernsthaft für Kunst interessiert. Deutlich weniger Menschen sehen sich die faszinierenden Kunstwerke in natura an oder entdecken in Ausstellungen neue persönliche Highlights. Nicht mehr als 20 oder 25 Prozent der Bevölkerung gingen ins Museum, erklärte Bruno Monnier 2024 in einem Bericht der Tagesschau. Eine Zahl, die der Gründer und Präsident des privaten Museums Culturespaces auf 50 Prozent anheben möchte. Und zwar mithilfe sogenannter immersiver Ausstellungen.

„Immersiv“ beschreibt einen Effekt, bei dem der Betrachter in eine multimediale Illusion aus Bild und Ton eintaucht und diese als absolut real empfindet. Mithilfe von 3D-Mapping können Projektoren Inhalte wie Grafiken, Animationen, Bilder oder Videos auf dreidimensionale Objekte projizieren, sodass eine einzigartige Atmosphäre entsteht. 1 x 1 Meter große Gemälde können auf 5 x 5 Meter hochskaliert und in einem Raum auf alle Wände projiziert werden. So findet man sich mitten im Bild wieder. Man kann es auch so verstehen, dass man sich in eine Sache vertieft. Doch setzen sich Besucher solcher modernen Ausstellungen wirklich tiefer mit einem Kunstwerk auseinander?

Dieser Kunstmarkt boomt

Ein Gemälde kann zutiefst beeindrucken. Vor allem, wenn es lebendig wirkt. Insbesondere Van Goghs Werke mit ihrem markanten ausdrucksstarken Stil „strotzen“ vor lebendiger Energie. Im Film „Loving Vincent“ greift Dorota Kobiela dies 2017 auf, indem sie seine Motive sich bewegen und sprechen lässt. Dazu wurden reale Filmaufnahmen aufwendig übermalt und anschließend animiert. Das verblüffende Ergebnis wurde international gefeiert. Immersive Ausstellungen stellen für manche die nächste Stufe in der Evolution der Kunst dar und ziehen ebenfalls Menschen auf der ganzen Welt in ihren Bann. Über fünf Millionen haben seit 2017 die animierten Sonnenblumen in „Van Gogh – The Immersive Experience“ gesehen. Nach sechs Monaten zählte die Ausstellung „Viva Frida Kahlo“ 2021 in Zürich 120.000 Besucher und „teamLab Planets“ in Tokyo stellte mit über 2,5 Millionen den Guinness-Weltrekord auf für das meistbesuchte Museum der Welt binnen eines Jahres, das einer einzigen Gruppe oder einem einzigen Künstler gewidmet ist.

Ohne viel Vorwissen notwendig zu machen, bietet die Multimediaschau ein unterhaltsames und subtil lehrendes Erlebnis, das auch Ausstellungsmuffeln gefällt. Auf Sitzkissen entspannen und die geballte Farbenpracht berühmter Bilder genießen macht vielen mehr Spaß, als durch Hallen mit alten Meistern zu wandern oder übermäßig ausgestattete Ausstellungen zu besuchen.

immersive Ausstellungen, Gasometer Oberhausen

Gasometer Oberhausen

Foto: © Dirk Böttger, Gasometer Oberhausen GmbH

GASOMETER OBERHAUSEN
Höhepunkt der Ausstellung ist die immersive Großinstallation „Die Welle“, deren 40 Meter messende Leinwand in den Himmel des Industriedenkmals aufsteigt. Mit über 1.000 Quadratmetern avanciert die Projektionsfläche zum visuellen Raumerlebnis, wenn die Besucher hier in riesige Wassermassen eintauchen, Fischschwärmen folgen oder gar Meeresgiganten in Originalgröße begegnen können. gasometer.de
Monets Garten

Immersive Ausstellung, Monets Garten

Foto: © Lukas Schulze

MONETS GARTEN
Die Ausstellung ist eine interaktive Multimedia-Erlebnisreise durch die Geschichte und Werke des Malers Claude Monet. monets-garten.de

Nicht nur immersiv, sondern auch interaktiv

Wir waren im Rahmen der Recherche in der immersiven und interaktiven Ausstellung „Monets Garten“ in Köln, die seit Anfang 2022 durch die ganze Welt tourt und just ihren Halt in der Rheinstadt bis zum 27. April 2025 verlängert hat. Schon zu Beginn ist alles wie immer und doch ganz anders. Im ersten Raum wuseln Besucher aller Altersklassen von einem Text zum anderen entlang der Biografie eines der größten Maler überhaupt. Claude Monet (1840–1926) war nicht nur Impressionist, er gab dieser neuen Bewegung auch ihren Namen und prägte sie wie kein anderer. Er rebellierte gegen die bis dato starren Kunststandards mit ihren detailtreuen Motiven und dunklen Farben, indem er farbenfrohe Tupfer benutzte, die erst von Weitem neue Farben und Inhalt erkennen lassen.

Der Hintergrund des französischen Malers ist für die neuartige Ausstellungsform in zweierlei Hinsicht relevant. Zum einen wird hier das bewegte Leben Claude Monets nicht bloß in Texttafeln am Zeitstrahl präsentiert. Der Raum ist dunkel und gegenüber bewegen sich die ersten Gemälde beziehungsweise ihre digitalen Kopien selbst! Die dem Impressionismus eigenen groben Farbtupfer gleiten wie Fischschwärme durch den Ozean hin und her, zunächst abrupt und schnell und dann gemächlich. Das eigentliche Motiv ist aber durchaus noch zu erkennen. Es scheint, als wäre Monets Stil wie geschaffen für das moderne Konzept. Mit Bildern aus dem Realismus ließe sich das wohl kaum bewerkstelligen.

Danach betreten wir Monets Garten, für den der Impressionist fast so berühmt war wie für seine Kunstwerke. Den Blumen verdankte er nach eigenen Worten, dass er überhaupt Maler geworden war. Ihre Farben waren seine große Leidenschaft und genau das kann man hier nachempfinden. Denn der Spaziergang durch sein Lebenswerk bietet viel Interaktion. Besucher, die sich vor versteckten Kameras umarmen, können Monets Farbpalette in Gang setzen, wer sich schwungvoll bewegt, wird selbst zum Maler, und wer seine eigene Seerose gestalten möchte, kann diese nach einem Scan im digitalen Teich wiederfinden. Für den Betrachter verwandelt sich Illusion in Realität.

Kritik

„Die Aufgabe des Künstlers besteht darin, das darzustellen, was sich zwischen dem Objekt und dem Künstler befindet, nämlich die Schönheit der Atmosphäre“, sagte Monet einmal. Tatsächlich unternimmt die Ausstellung in Köln genau diesen Versuch, wobei sich die Frage aufdrängt, ob denn das Kunstwerk dadurch nicht entmündigt wird. Immersive Veranstaltungen versuchen die Schönheit der Atmosphäre einzufangen. Aber sprechen gelungene Kunstwerke nicht eigentlich für sich selbst?

An den modernen Zurschaustellungen scheiden sich die Geister. Ungeachtet ihres immensen Erfolgs attestieren ihnen Experten und interessierte Besucher, nicht mehr als ergänzendes Spektakel zu sein. Die „Verwurstung“ vorausgegangener Werke biete nichts Neues, lenke ab und entfremde den Betrachtenden vom ausgestellten Objekt. So sei denn auch kein Diskurs über das Gesehene möglich, was unweigerlich zu nicht nachhaltigem Konsum führe. Auf einer anderen Ebene vermissen Kritiker die verlorene Tiefe der echten Gemälde. Wer einem solchen Original gegenübersteht, das ja ebenso ganze Hallenwände ausfüllen kann, sieht die Pinselstriche, die Konturen und Schatten – echtes Handwerk mit einzigartiger Haptik.

Foto: MonetsGarten-Stuttgart © Morris Mac Matzen

Foto: MonetsGarten-Stuttgart © Morris Mac Matzen

Foto: MonetsGarten-Stuttgart © Morris Mac Matzen

PHOENIX DES LUMIÈRES, Hundertwasser

„Phoenix des Lumières“ in Dortmund „Hundertwasser im Gefolge der Wiener Secession“ phoenix-lumieres.com/de

Foto: © Culturespaces/Eric Spiller

„PHOENIX DES LUMIÈRES“ in Dortmund
„Hundertwasser im Gefolge der Wiener Secession“,  phoenix-lumieres.com/de

Eine eigenständige Form der Kunst

Es gibt auch originelle immersive Kunst. Wir schlagen an dieser Stelle eine Brücke zwischen „Monets Garten“ in Köln und „teamLab Planets“ in Tokyo. Der große Impressionist war fasziniert von japanischen Holzschnitten, die seit etwa 1850 nach Europa gelangten. Fast 200 Jahre später sind die Verbindungen zum Kunst-Parkour des Kollektivs teamLab in der japanischen Metropole unübersehbar – und spürbar. Ein Besuch vor Ort zeigt, dass immersiv nicht zwangsläufig ein Upgrade altehrwürdiger Kunstwerke bedeutet, sondern eine eigene Kunstform darstellen kann. In einem riesigen Gebäudekomplex können die Besucher die Installationen barfuß erkunden und so ein umfassendes Erlebnis erfahren. Im „Gartenbereich“ taucht man beispielsweise in die Welt von über 13.000 lebenden Orchideen ein. Die Orchideen reagieren, wenn man sich ihnen nähert, schweben nach oben und schaffen einen Raum um einen herum – Haptik der anderen Art.

Phoenix des Lumieres Gustav Klimt

Phoenix des Lumieres Gustav Klimt

Foto: © Culturespaces/Vincent Pinson

„PHOENIX DES LUMIÈRES“ in Dortmund
Die Erlebniswelten des Malers Gustav Klimt bilden den Auftakt von Phoenix des Lumières. phoenix-lumieres.com/de
immersive Ausstellungen, Phoenix des Lumieres Gustav Klimt

Foto: © Culturespaces/Vincent Pinson

Foto: © Culturespaces/Vincent Pinson

teamLab, das mitunter als Pionier der digitalen Kunst vorgestellt wird, bietet mehr als reine Show und Wellness. An mehreren Stationen kann man die Verletzlichkeit unserer Umwelt mit allen Sinnen erfahren. Viele Besucher sind zwar mehr damit beschäftigt, Selfies zu machen, als den Moment auf sich wirken zu lassen, aber zum Ende der Reise hin geschieht etwas Unerwartetes und Interessantes: Sie werden eingeladen, in einem verspiegelten Raum zu fotografieren, während von der Decke herunterhängende Blumenranken mithilfe von Sensoren auf die Bewegungen der Besucher reagieren. Das führt dazu, dass diejenigen, die sich reglos auf den Boden legen oder zumindest behutsam mit ihrem Mobiltelefon hantieren, den Pflanzen näher kommen können. Lektion gelernt. Diese Ausstellung erforscht das Zusammenspiel von Kunst, Wissenschaft, Technologie und der natürlichen Welt.

immersive Ausstellungen, Monets Garten Tokyo

immersive Ausstellungen, Monets Garten Tokyo

Foto: © Bryan Kolarczyk

teamLab Planets in Tokyo
Ein Spaziergang mit allen Sinnen durch Blumen, Licht und Wasser
immersive Ausstellungen, Monets Garten Tokyo

immersive Ausstellungen, Monets Garten Tokyo

Foto: © Bryan Kolarczyk

immersive Ausstellungen, Monets Garten Tokyo

Monets Garten Tokyo

Foto: © Bryan Kolarczyk

Erfolg und Konsens

Kunst ist Geschmackssache oder vielleicht findet man im konkreten Einzelfall nicht immer den Draht dazu. In einer immersiven Ausstellung strecken Kunstwerke die Hand nach jedem aus. Jeder kann sie neu erleben oder auf diese Weise kennenlernen. Auch wenn es den gegebenenfalls vorliegenden Originalen nicht immer und unbedingt gerecht wird, so haben Museen mit immersivem Konzept eine Sprache gefunden, die viel mehr als 25 Prozent von uns verstehen.
(Bryan Kolarczyk)

Bundeskunsthalle immersive Ausstellungen
Bundeskunsthalle: SAVE LAND. UNITED FOR LAND
Liam Young, Planet Stadt, 2021, © Regie und Design: Liam Young with VFX Supervisor Alexey Marfin, bundeskunsthalle.de
immersive Ausstellung, Bundeskunsthalle
Bundeskunsthalle: SAVE LAND. UNITED FOR LAND
Interaktiver Globus „Land Global“, 2024, © dform/Bildwerk, bundeskunsthalle.de

TIPP:
In diesem Jahr gibt es einige immersive Ausstellungen allein in NRW zu sehen.
www.nrw-tourismus.de/kultur/top-ausstellungen